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100 Meisterwerke der Gegenwart - Seute Deern

100 Meisterwerke der Gegenwart - Seute Deern

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100 Meisterwerke der Gegenwart - Seute Deern

Hinnerks Segelboot war sein ganzer Stolz.
In jeder freien Minute schipperte er mit ihm auf der Nordsee herum.
An diesem Wochenende hatte er sich extra noch einen Tag freigenommen, der Freitag sollte sich schließlich seinen Namen verdienen.

Auf der Fahrt zum Hafen hatte er noch ordentlich eingekauft und dabei den Köm nicht vergessen. Es würde die letzte Segeltour vor dem Winter sein, bevor er sein Boot an Land zog und für fünf oder sechs traurige Monate einmottete. Da sollte jetzt die Fröhlichkeit nicht zu kurz kommen.

Bei schönstem Herbstwetter, strahlender Sonne und einem angenehmen Wind war er ausgelaufen, hatte die ostfriesischen Inseln umschippert und kreuzte nun nördlich von Borkum fröhlich hin und her, noch vor der Hauptschifffahrtsroute Rotterdam - Hamburg.

Hinnerk fühlte sich rundum pudelwohl, genoß die warmen Strahlen der Sonne, den milden Wind und ganz sanften Wellengang. Diese in Verbindung mit dem Köm, das Frühstück hatte er sich in der Eile gespart, versetzten Hinnerk in eine eigenartige Hochstimmung. Wie anders wäre es zu erklären, daß er nun auf eine, na sagen wir etwas ausgefallene Idee kam. Er holte seine alte Polaroidkamera heraus, die schon uralt war, und für die er nur noch auf Flohmärkten überlagerte Filme bekam. Aber Hinnerk warf nichts weg, was noch halbwegs brauchbar war, aber gar nichts. So trug er immer noch die schon vor Jahrzehnten aus der Mode gekommenen Schlaghosen, das sind die, wo das Bein schon fast drei Meter weiter vorne ist und die Hose noch hinterherschlackert, also am Bein, meine ich. Breite Schlipse hatte er auch noch, denn wie gesagt, er warf ja nichts weg. Und sein altes Auto glänzte wie am Tag der Auslieferung, weil er es jeden Tag wienerte. Seine Frau glänzte auch, allerdings durch Abwesenheit, denn sie hatte ihn vor Jahren schon verlassen. Das hatte er zwar nie verstanden aber gut überwunden.

Hinnerk meinte, unbedingt mal wieder ein Bild von seinem Schiff machen zu müssen, denn es sah in der Sonne und im Gegenlicht wirklich klasse aus, fast edel. Aber wie? Nun ja, im Nachhinein ist nicht ganz klar, was Hinnerk getrieben hat, der Köm hatte bestimmt seinen Anteil daran. Der Wind war gerade noch so stark, um die Segel nicht zusammenfallen zu lassen. Das war die Gelegenheit. Hinnerk machte sein Beiboot klar, klemmte am Segelboot die Pinn (oder wie das Dingens heißt, was das Boot lenkt) fest, setze sich in sein Beiboot und pullte raus.

Wow, was lag seine Seute Deern satt im Wasser, denn so hieß sie, und so hatte er auch immer seine Frau genannt. Dabei war es nicht selten zu Verwechslungen gekommen, zum Beispiel, wenn es im rausfuhr, daß seine Seute Deern mal wieder abgetakelt oder eingemottet werden müßte oder man bei ihr klar Schiff machen müsse. Nun, heute war die eine weg, und die andere lag malerisch in der Sonne. Hinnerk holte die Polaroid aus dem Rucksack, den hatte er noch von seinem Großvater, klappte sie auf und schoß ein Bild und gleich noch eins und noch eins und noch eins, denn die Entwicklung konnte er nicht abwarten.

Dann nahm er das erste Bild in die Hand, es war noch alles verschwommen zu sehen. Er hauchte drauf und hielt es an die Sonne. Es entwickelte sich, und nach einer fast qualvoll langen Zeit lag es voll und klar in seiner Hand. Wow, entfuhr es ihm nochmals, wow! Das war eine Pracht, sein Boot, seine Seute Deern, tja, die machte echt was her.

Unterdessen frischte der Wind leicht auf. Hinnerk bemerkte das nicht, sondern betrachtete die anderen Bilder.
Auf einmal erschrak er. "Huch, da bin ja ich auf dem Boot!" Ja, er erkannte sich ganz deutlich, wie er hinten im Boot saß. so zwischen Segel und Außenbordmotor. Er schaute rüber auf sein Boot. Richtig, da saß er. Ein Out of Body Experience? Er nahm wahr, jetzt erst, daß der Wind stärker wurde, die Segel blähte und das Boot Fahrt aufnahm.
"Macht nix." dachte er, „ich bin ja an Bord.“
Er nahm einen kräftigen Schluck vom Köm, betrachtete sich seine Bilder und sah ab und zu rüber zu seinam alter ego auf der Seuten Deern, die immer kleiner wurde. Er winkte dem Segelschiff zu, er winkte sich zu, er war fröhlich und ausgelassen ...



Euch ein schönes Wochenende, aber seid vorsichtig mit dem Köm!

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