Der kleine Ausreißer
„Wo willst du denn so schnell hin?“, fragte ich das Gänseküken.
„Ich hau´ ab! Ich verschwinde!! Ich habe den Schnabel gestrichen voll!!!“, schimpfte es.
„Warum denn, was ist denn passiert?“
„Ach, immer das gleiche. Meine Eltern sind nur am Meckern: Es wird gegessen, was auf den Tisch kommt, sagen sie. Aber ich mag keinen Wasserspinat. Hast du deine Hausaufgaben schon gemacht? fragen sie. Aber ich hasse Hausaufgaben. In fünf Minuten machst du den Fernseher aus, fordern sie. Aber ich will meine Lieblingssendung noch zu Ende gucken. Das hält doch kein Küken aus!“
„Das kommt mir sehr bekannt vor“, gab ich zu. „Ich bin auch mal weggelaufen.“
„Echt? Haben dich deine Eltern auch so genervt?“
„Oh ja! Ich musste immer schon um halb sechs ins Bett und da war ich bereits 17 Jahre alt.“
„Das gibt es doch nicht!“, sagte das Küken entrüstet.
„Oh doch, das gibt es! Und was das Essen betrifft: Bei mir gab es immer nur Knäckebrot mit Lebertran. Ich hätte mich über Wasserspinat sehr gefreut.“
„Kann ich verstehen.“ Das Küken schüttelte sich angeekelt.
„Hausaufgaben musste ich immer morgens um fünf Uhr vor der Schule machen, denn tagsüber musste ich ja im Haushalt helfen“, jammerte ich.
„Du warst ja echt eine arme Socke.“ Die kleine Nilgans drückte mich.
„Ja, und von einem Fernseher konnte ich nur träumen.“ Ich fing an zu weinen. „Die einzige Freude, die ich hatte, war eine Märchen-Langspielplatte. Doch die hatte einen dicken Sprung. Hundertmal musste ich mir die erste Minute anhören, bevor es weiterging.“
Laut flennend warf ich mich in die Flügelchen des Kükens. Noch nie zuvor war mir so bewusst geworden, wie schwer ich es doch früher hatte. Das Gänslein reichte mir ein Taschentuch und ich schnäuzte kräftig.
„Weißt du was?“, fragte es.
„Nein, was denn?“ Meine Stimme war immer noch ganz zittrig.
„Ich lauf´ doch nicht weg. So schlimm ist das hier dann ja doch nicht. Zumindest, wenn ich es mit deiner Kindheit vergleiche. Außerdem brauchst du einen Freund, der sich um dich kümmert.“
Ich war sehr froh, endlich jemanden zu haben, der mich verstand. Das Küken aß artig seinen Wasserspinat, machte gründlich seine Hausaufgaben und schaute nicht mehr so viel fern, um mehr Zeit mit mir zu verbringen. Ich hatte einen neuen besten Freund gefunden…
Gabriele Benzler 16/04/2023 11:25
Wie süß, das Foto und auch die Geschichte!LG Gabi
Astrid Wiezorek 15/04/2023 10:47
Eine schöne Geschichte. Ja, ja, ein Glück, dass man heute so viel (wenn man im Leben nicht klar kommt) auf eine schlimme Kindheit schieben kann, das gab es früher noch nicht.Das kleine Entchen ist übrigens zucker süß.
LG Astrid
Ingelore K. 15/04/2023 9:42
Wie süß, das kleine Gänseküken, ganz zauberhaft aufgenommen. Und die Geschichte, herrlich, der erste Teil kommt mir irgendwie bekannt vor...LG Ingelore
Corinna Lichtenberg 14/04/2023 22:19
Was für ein entzückendes Bild und die Geschichte dazu ist ja wirklich zum weinen.Liebe Grüße Corinna
G Goldbach 14/04/2023 18:13
Sehr cool auf Augenhöhe festgehalten!Gruß Guido
Karl G. Vock 14/04/2023 17:26
Klasse Perspektive.Die Geschichte kommt mir sehr bekannt vor :D.
LG
Karl
Monsieur M 14/04/2023 16:33
Volle Kraft voraus.LG Norbert
Karlchen Karl 14/04/2023 16:24
...good job...;-)))))))))))Gruß Karin
Andrea A. S. 14/04/2023 16:06
Putzig.... und diese vielen Flaumhärchen :-)Ganz toll getroffen!
LG Andrea
.soli. 14/04/2023 16:01
Saucool...Ein feines Bild zum Schmunzeln :)