Das falsche Baby
Die Frau
Ich ging durch die Straßen meiner Lieblingsgartenstadt, stapfte mühsam durch den Schnee, vor mir her schob ich einen Kinderwagen mit Elias. Dieser wollte nicht schlafen. Da Bewegung im Kinderwagen immer die beste Möglichkeit ist, Kinder zu ermüden, hatte ich von meiner Tochter den Auftrag erhalten, das Kind sanft in den Schlaf zu befördern. Der Tag war der 1. Januar 2003. Es war Nachmittag, so gegen 16.10 Uhr. Ich weiß das deswegen so genau, weil mir an diesem Tag das widerfuhr, was ich mir in meinem Leben nie erträumt hatte. Ich hatte schon viel erlebt, hatte Kranke besucht, Unfälle erlebt mit Blechschäden und Verletzten, hatte einen schon angeschimmelten Toten in einem Baum hängen sehen, erlebt, wie Menschen von der Leiter fallen und anschließend mörderisch schreien. Ja, ich hatte schon im Fernsehen die dümmsten Witze-Erzähler gehört und gesehen und diese überlebt. Hatte Chefs gesehen, gerochen, gehört und ihre Fähigkeiten mit Freuden wahrgenommen, ihre Dummheiten mit Schmerzen ertragen. Ich hatte auf dem Lande die Gülle-Saison durchgestanden, olfaktorische Irrfahren durchgemacht. Alle diese Widrigkeiten waren gar nichts gegen dieses Erlebnis am 1. Januar 2003.
Dem neuen Jahr konnte und wollte ich noch nichts Schlechtes nachsagen, außer, dass die Müllmänner nicht schnell genug diese Reste von Krachern und Raketen beseitigt hatten, diese leeren Schnapsflaschen, Bierflaschen und anderen Müll von Menschen, die vielleicht nur darum geboren worden waren, um diesen Planeten so voll zu müllen, so dass die unvorsichtigen, blinden guten Menschen auf dieser Welt all diese Umweltsünder hinter ihrem Müll nicht mehr sehen könnten. Das wäre gut, dem menschlichen Elend nicht immer ins Auge sehen zu müssen. Allein es bleibt die Erkenntnis, dass so viel Müll herumliegt, der die Augen genau so beleidigt wie diese Müll produzierenden Mitmenschen, die wenig Geld zum Leben haben oder die Praxen der Psychologen besuchen, weil sie mit ihrem Leben nicht so recht klar kommen. Wenn sie dort nicht sind oder hier nicht, dann ließen die Müllmacher ihre Köter die Bürgersteige zukoten, weil sie kein Geld für die Kackatüten hatten, denn ihr Etat ließ nur Hundefutterkauf bei Allotri zu. Die entsorgten Produkte ihrer Schoß- und Scheißhündchen wurden von den Schuhen so manches Passanten durch die Stadt getragen und allmählich entsorgt. Es gibt Mitmenschen, die behaupten, über der Stadt liege eine bescheidene Duftglocke von Hundekot, erzeugt von den Vier- oder Dreibeinern dieser Stadt mit Flair in the air.
Ich habe mich jetzt leider ein wenig verloren in der Betrachtung städtischen Ungemachs, habe noch gar nicht gesprochen vom schreienden Baby, ach, was sag ich!, von den schreien Babies grauen Stadtteil neben der Chemiefabrik, deren Eltern zeitlich indisponibel sind, weil sie den Umsatz der Diskounter antreiben müssen. Aber, ich war ja bei diesem Erlebnis nicht im grauen Stadtteil, denn dort hin gehe ich nur, wenn ich unbedingt muss. Ich war in meiner geliebten Gartenstadt.
Der Schnee knirschte unter den drei gefüllten und dem einen halb gefüllten Luftreifen des Kinderwagens. Wenige Städter schlichen durch den Schnee. Am Abend zuvor hatte es im Fernsehen die Sendung mit André gegeben. André ist der aus Holland kommende Geiger, der mit wirklichsüßen Melodien und schlecht gesprochenen Sätzen aus Jahresendveranstaltungen das Gegenteil von Fröhlichkeit macht. All diese Fernsehfreunde von André saßen vermutlich noch oder schon wieder zu Hause und lauschten irgendwelchen Melodien oder auch Mario Schnäuzer, dem Meister der Verbal-Onanie. Ja, das Leben ist schon schön in Deutschland, auch in der Stadt, bis auf einige Ausnahmen.
Ich schob also meinen Wagen durch den Schnee. Die Werbeinschriften von vier Banken, Vier Banken!!- belebten den Geist des Schuldners in mir und auch den, der Leuchtreklamen liebt. Konzert- Bank, Barkasse, Leutebank, Heimat- Bank. Nur bei zweien habe ich ein Konto. Als ich an der Leutebank vorüberging, erinnerte ich mich an meine leere Geldbörse und an den Bankautomaten. Ich hatte nun zwei Aufgaben zu erledigen. Erstens musste ich den Kinderwagen irgendwie sicher deponieren. Ich dachte an draußen, erinnerte mich aber an Kinderräuber. Wären diese nicht gelegentlich unterwegs, gäbe es weniger Probleme auf dieser Welt. Ich öffnete also die Tür zu Filiale mit der Hand, zog die Tür zu mir hin, eilte zum Kinderwagen und versuchte diesen ganz schnell in den Kassenraum zu schieben, musste aber erfahren, dass die Tür schneller wieder geschlossen war als ich im Raum. Das sind diese schweren Türen, die Einbrecher nicht so leicht aufhebeln können, denn vor allem für Banken gibt es strenge Vorschriften über Materialstärken und –beschaffenheit.
Ich versuchte es dreimal: vergeblich. Beim dritten Mal entdeckte ich eine Frau, die sich mit einem Kinderwagen im Raum befand. Sie saß dort auf einem der Stühle und schaukelte gelegentlich ihren Buggy. Das alles konnte ich durch die Scheibe der Tür sehen. Sie half mir jedoch nicht. Erst nach 10 Minuten kam eine ungefähr 70-jährige Frau im Pelzmantel und öffnete mir die Tür. In dem Moment wusste ich, dass nicht alle Frauen im Pelzmantel Scheusale sind und auch, dass Leute mit Kinderwagen immer höflich bedacht werden mit Aktionen der Menschenliebe. Ich hatte jetzt also wirklich die Möglichkeit Geld zu holen und ging in Gedanken meine Ausgaben in den nächsten drei Tagen durch, den Ausgaben für mich, nicht für den Opa in mir, der gerne kleine Tierchen aus Kunstpelz kauft, um diese Enkelkindern zu schenken und auf ein Lächeln zu warten. Ich hatte schon ein Tierchen mitgebracht. Das musste reichen.
Ich stand nun vor dem Geldautomaten, las mehrere Hinweise durch, unter anderem auch den, der davor warnte, Fremden einen Blick auf die Pin-Nummer zu werfen, die ja nun wirklich eine personal identity-number ist und nicht für Hinz und Kunz bestimmt, die dann mit der Kenntnis der PIN-Nummer dein Konto leerräumen konnten. Warum sollte ich einem Fremden einen Blick auf meine EC-Karte werfen lassen? Das wäre überflüssig. Bevor ich die Karte in den berühmten Schlitz, der die Bank öffnet, steckte, tastete ich die Gegend um Monitor und Beleuchtung ab. Wackelte an Tastaturen, verbog den Gummischutz für die Zahlen, nicht ohne einen Blick auf die Frau zu werfen. An ihrem Buggy hingen einige Plastiktüten, die manche etwas geringschätzig Türkenkoffer nennen. Als ich zu ihr hinschaute, schaute sie in den Buggy und streichelte irgendetwas. Vielleicht streichelt sie ein Kind? dachte ich, obwohl, wenn ich sie mir so anschaute; sie wirkte wie eine über Vierzigjährige. Normalerweise bekamen die in der Stadt keine Kinder mehr. Nicht nur wegen der Hundehaufen, in die Kinder so gerne traten. Sie schaute mich an und fragte: Wollen se Jeld abheben. Ich nickte, denn warum sollte ich sonst meine Karte in den Schlitz stecken? N a ja, sagte ich, glauben sie etwa, das hier sei ein Kontaktcenter für EC-Karten. Sie schlug verschämt die Augen nieder. Ich wollte auch etwas sagen und fragte: Schläft ihr Kind schon lange? Na, ja, sagte sie, frische Luft bekommt et am besten, wa. Nur ick friere, darum sitze ick hier und warte, bis et wach wird, wa. Die Banken heizen imma gut, wa. Ich fühlte mich beruhigt, steckte die Karte in den Schlitz. Bevor ich meine persönliche Nummer eingab, schaute ich noch einmal zu ihr hinüber. Erschrocken griff sie wieder in den Wagen und machte irgendwelche Bewegungen.
Irgendwie irritierte sie mich. Ich schaute mir noch einmal genau die Servicefläche an, konnte aber nichts entdecken. Endlich, beruhigt, konnte ich meine Nummer eingeben, entnahm dem Automaten, nachdem dieser in seinem Innenleben einige Geräusche freigelassen hatte, das Geld, das der Automat hinter einer Klappe zur Bedienung abgelegt hatte. Hundertzwanzig Euro. Die nächsten drei Tage schienen gesichert. Ich drehte mich um, schob meinen Kinderwagen in Richtung Tür, als mein Blick erneut auf die Frau fiel. Vielleicht ist sie nur arm? dachte ich. Dieser Blick drang so durch mich durch, dass ich aus meiner Börse 5 Euro nahm und diese der Frau gab. Sie lächelte müde und sagte: Mein Kind wird sich freuen. Ach ja, ihr Kind. Ich wollte in den Wagen schauen. Sie drehte ihn jedoch schnell weg und verwehrte mir den Blick. Mag sein, sie möchte nicht, dass ich es wecke. Ich ging durch die Tür nach draußen, die ein älterer Herr freundlich für mich öffnete. Nachdem ich dreißig Meter gegangen war, hielt ich inne. Kind, dachte ich. Ich hatte kein Atmen gehört und so richtig auch kein Kind gesehen. Sollte sie? Ich ging zurück in die Bank, zu der Frau und drehte ihren Kinderwagen zu mir hin. Sie schrie, als ich das vorgehängte Tuch zur Seite schob. Nein!, nein!!! Doch ich war schneller und entdeckte ein bleiches Gesicht. Ich strich ihm über die Wange und bemerkte eine Eiseskälte. Das Kind war tot. Die Frau nahm den Wagen und flüchtete aus der Bankfiliale. Ich hinterher, hätte beinahe meinen Enkel vergessen, der noch still vor sich hin schlummerte. Warten sie!!!, rief ich. Nun laufen sie nicht weg! Aber sie rannte, so schnell sie nur konnte, mit dem Buggy in die Bürgermeister- Donnersmarck-Straße. Diese Schnelligkeit hätte ich ihr gar nicht zugetraut. Warten sie, rief ich noch mehrere Male. Sie hörte jedoch nicht. Ich nahm mein Handy und rief die Polizei. Nach fünf Minuten war diese vor der Bankfiliale. Wo ist der Dieb? wollten die Beamten wissen. Kein Dieb, es gibt keinen Dieb, nur eine Frau mit einem toten Kind.
Sie schauten mich an, als hätte ich den Verstand verloren. Da, dort ist sie hinuntergelaufen. Sie trug eine weiße Weste, darunter einen grauen Pullover. Das Kind saß in ein einem Buggy und an den Griffen hingen mehrere Plastiktüten. Die Polizisten schauten sich beide an und lachten. Warum lachen sie? wollte ich wissen. Ach, nur so. Die Frau hat kein Kind in ihrem Wagen. Das ist eine Puppe. Das ist die Tüten-Else. Aber das Gesicht, ich habe doch in das kalte Gesicht gefasst. Ja, wir kennen das KIND, es ist aus weichem Plastik und sieht aus wie echt. Wir wurden schön öfter wegen der Frau gerufen. Ich starrte sie an und stotterte: Aus Plastik also? Ja, sagten sie. Machen sie sich keine Sorgen! Schönen ersten Januar noch! Sie verließen mich. In diesem Moment ertönte aus meinem Kinderwagen ein fast mörderischer Schrei. Elias war erwacht. Ich ging schnell los, zurück nach Hause. Was sollte ich tun, wenn er nicht aufhörte, weil er Hunger hat. Der Schnee knirschte unter meinen Füßen, es wurde dunkler und dunkler. Hinter den Bäumen zeigte sich der halbe Mond.
Licht spendeten die alten Laternen, ziemlich bleiches.
Smuel Seaweed
E-Punkt 11/01/2010 19:41
Ohne deinen Text zuvor zu lesen,haftete dem Bild sofort etwas
"Negatives" an, es könnte ja auch
ein Puppenwagen sein mit einer
Puppe drin, aber das düstere sw-Bild
ließ spontan diesen Gedanken gar nicht erst zu.
Deine Geschichte habe ich mir ausgedruckt
(2 1/2 Din 4 Seiten )
Ich habe sie in aller Ruhe auf der Couch gelesen.
Spannend aufgebaut von A-Z.
Gute Wiedergabe der grauen Stadt
und die Erwähnung des Begriffes deiner
Gartenstadt. Und da passiert es denn, in
dieser schönen Gartenstadt (schon allein der Ausdruck
assoziart Buntes, Fröhliches und vor allem Gepflegtes),
da also hält sich Tüten-Else in der Bank auf, weil sie
so schön warm ist und du wirst ihrer ansichtig.
Selbst einen Kinderwagen schiebend ( fein beobachtet, wie wenig Hilfe man doch beim Betreten eines Gebäudes bekommt), geht dir das Herz auf, und
du schenkst dem Kind und der Frau 5 Euro.
Kann es denn sein, daß der Tatbestand des vorhandenen vermeintlichen Babies milder für
eine Gabe stimmt? Ja.
Dann der Schreck, das King ist tot. Nein,
es handelt sich um eine Plastikpuppe.
Wer im Alter einer Frau (also kein Kind mehr)
schiebt denn einen Kinderwagen,
wo doch die Mühsal der Beförderung durch
eine Tür offensichtlich ist, wer also außer einem Kind
schiebt ein Plastikbaby in einem Kinderwagen
durch die Gegend?
Das mutet unheimlich an. Man weiß aus
der Psychiartrie von posttraumatischen
Belastungsstörungen. Eine arme Frau, ein
Opfer.
Düsterkeit der Erzählung, der wirklich guten Erzählung,
spiegelt sich in dem Bild wider und ist eine wirkungsvolle Ergänzung.
Wie gesagt, das Bild ist so gehalten, daß ich sofort an jene Frau in der Berichterstattung im TV denken mußte, die überall in einer Stadt ein
Baby aus Plastik mitschleppte. Hinzu kam der Titel, der mich sofort in diese Richtung denken ließ.
Ich möchte die Erzählung aber nicht missen.
Sehr gut gemacht,
Elfi
hier noch einen Link
http://www.berlinonline.de/berliner-zeitung/archiv/.bin/dump.fcgi/2008/1025/berlin/0005/index.html
† Anne Louise Schneider 11/01/2010 19:25
ein sehr gutes Bild von dir zu dieser Geschichte. Grüße von Anne