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Denise 85


Premium (Basic), Schaffhausen

In diesem Haus...

In diesem Haus wurde sie geboren und in diesem Haus verbrachte sie ihre Kindheit. In diesem Haus lebte sie auch noch als junge Frau. Die ganzen Kinder aus der Nachbarschaft wollten im Winter ihre Skis ausleihen. Der schnellste bekam sie. In dieser Zeit vergrub sie auch eine Baumnuss im Garten, um zu sehen, was passiert. Wie die Jahre verflogen, spross tatsächlich ein kleines, feines Bäumchen aus der Nuss. Aber auch die Nachbarskinder, denen sie so gerne beim Spielen zusah, wurden grösser, bekamen selber Kinder und zogen weg. Sie selber wohnte immer noch in diesem Haus. Ihre Eltern starben, ihre Schwester zog aus und sie lebte darin ganz alleine. Um ihren Lebensunterhalt zu finanzieren, half sie in der Kirche, wo es nur ging. An speziellen Anlässen läutete sie die Glocken in der St. Leonhardskapelle. Die Glockenschläge waren nicht weit zu hören, aber man konnte sie bis zu ihrem Haus, in der ganzen Nachbarschaft und sogar etwas weiter fort vernehmen. Sie fuhr jeden Tag mit dem Fahrrad zur Kapelle und wieder zurück.
Eines Tages sah sie ein Mädchen in ihrem Nachbarsgarten spielen. Als sie mit dem Fahrrad am Gartenzaun vorbei fuhr, sprang das Mädchen zu ihr hin und rief mit freudigen Augen: "Ich habe heute Geburtstag!" Sie musste herzlich lachen über die Unbekümmertheit dieses fröhlichen Kindes. Als sie zu Hause war, suchte sie schnell etwas Geschenkspapier und wickelte darin schön sorgfältig eine Tafel Schokolade ein. Sie brachte das Geschenk dem Geburtstagskindlein, das gleich noch strahlendere Augen bekam.
Von diesem Tag an besuchte sie das Mädchen häufig. Wie sich herausstellte, war es die Enkelin eines Jugens, der sich früher häufig ihre Skis geliehen hatte.
Das Mädchen half ihr in ihrem geliebten Garten, half Johannisbeeren zu pflücken, half Baumnüsse zusammenzulesen, half ihr den kleinen Brunnen vor dem Haus zu putzen, spielte mit ihr Schach und jasste auch oft mit ihr. Manchmal brachte das Mädchen sogar ihr Akkordeon mit und spielte ihr darauf vor! Doch immer noch verging die Zeit wie im Fluge und ihre Hände wurden immer unbeweglicher und gefühlsloser, so dass sie zuerst die Schachfiguren nicht mehr halten konnte und bald auch mit den Jasskarten nicht mehr umgehen konnte. Auch das Mädchen wurde grösser. Es kam nicht mehr fast jeden Tag zu Besuch, aber es kam immer noch ab und zu vorbei. Sie schenkte dem Mädchen viele Bücher, über die sie redeten. Nur eins verschenkte sie nicht, sondern lieh es nur aus: "Der Priester der Verdammten". Es war ihr Lieblingsbuch und handelte von einem flämischen Mönch, der in Hawaii auf Molokai, der Insel der Aussätzigen, gegen die Pest kämpfte und schliesslich selber daran starb. Sie war sehr religiös und in ihrem Wohnzimmer hing ein Bild von Papst Johannes Paul I. Obwohl sie dem Mädchen einmal eine Kinderbibel schenkte, fragte sie nie nach dem Glauben und redete nicht viel über Gott.
Eines Tages geschah, was ihr bisher erspart blieb: Sie stürzte und brach sich das Bein. Kurz darauf stürzte sie nochmals und brach sie den Arm. Ihre Nichte, die einzige Verwandte, sah sehr häufig nach ihr und kümmerte sich immer liebevoll um sie. Doch ihre Verletzungen bedurften, angesichts ihres hohen Alters, intensiverer Pflege, als sie ihr die Nichte bieten konnte. Das Mädchen wird in Kürze auch wegziehen. Über den Winter würde sie nun ins Altersheim gehen. Sie nahm sich einen Stuhl und eine Kommode aus ihrem Haus mit. Man müsste sonst nur zu viel zurück nehmen, denn im Frühling, wenn ihre Brüche verheilt sind, wird sie schliesslich wieder in ihrem Haus leben und den Garten pflegen.
Es wurde Frühling. Doch keiner war da, um sie wieder zurück in ihr Haus zu bringen. Alle sagten, es wäre besser so und dass sich alle Sorgen machen um sie, wenn sie alleine in so einem grossen Haus sei. Man sähe ja, was passieren könne. Und schliesslich sei sie doch bald 90.
Alle machen sich Sorgen. Aber für sie brach eine Welt zusammen. Sie konnte sich nicht einmal von ihrem Haus verabschieden! Wer kümmert sich denn darum und um den Garten? Vielleicht wusste sie die Antwort innerlich: niemand.
Das Mädchen, aus dem mittlerweile eine junge Frau geworden ist, kam sie zwar immer noch besuchen, aber nur noch zwei, drei Mal im Jahr. An Weihnachten, an ihrem Geburtstag, und einmal vielleicht noch unter dem Jahr. Ihr Gehör gab stark nach, sie sah nur noch schlecht und konnte ohne Gehhilfe nur noch drei, vier Meter zurücklegen. Im Geiste war sie jedoch noch sehr wach. Aber was war das noch für ein Leben? In einem kleinen Zimmer im Altersheim, ohne Aufgabe und vor allem mit immer weniger werdenden äusseren Eindrücken? Ihr Gehör liess kaum noch Kommunikation mit Mitmenschen zu.
Sie spürte fast täglich wie ihr Körper schwächer wurde, der Geist jedoch blieb wach. Doch ab und zu erkannte sie das Mädchen nicht mehr sofort. Sie wusste aber immer noch, wie es ihr vor Jahren zuschrie: "Ich habe heute Geburtstag!" Sie liebte es, diese Geschichte zu erzählen, wenn das Mädchen zu Besuch war.
An ihrem 94. Geburtstag war das Mädchen aber nicht da. Das Mädchen hörte von ihrem schlechten Zustand und dass die Ärzte überaus besorgt waren um ihren plötzlichen Gesundheitsumschlag. Das Mädchen traf die Nachricht hart. Es wollte sie nicht auf dem Sterbebett in Erinnerung haben und entschloss sich schliesslich, sie an ihrem Geburtstag nicht zu besuchen.
Das Mädchen weiss heute - fünf Wochen später, dass es die richtige Entscheidung war, auch wenn es schmerzt. Denn es hat sie jetzt noch so in Erinnerung, wie sie war. Ein herzensguter Blick und ein ansehliches Gesicht, trotz den vielen Falten. Augen, in denen man nicht die geringste Seelenunreinheit aufblitzen sah. Augen die eine fast magische Strahlung besassen, wenn sie von früher erzählten. Ein Gesicht, das einem das Herz erhellte, wenn sie die Worte des Mädchens zitierten: "Ich habe heute Geburtstag!".
Das wird nun eine Erinnerung bleiben. Das weiss die junge Frau, die damals das Mädchen war. Und diese Erinnerungen gehen ihr alle durch den Kopf, wenn sie ins Nachbargrundstück schaut: Das grosse Haus mit einem nun verwilderten Garten - und einem mächtigen Baumnussbaum!

Für Johanna. Du warst ein sehr spezieller Mensch und ich werde dich vermissen. Aber ich weiss, dass du bereit warst und ich wünsche dir, dass du jetzt bei deinem Gott bist. Ich weiss, dass er dir gestern gut ging!


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While gazing on that city, just over that narrow flood
A band of holy angels came from the throne of God
They bore her on their pinions, they bore the dashing foam
And joined her in her triumph: "Deliverance has come!"

(A.P. Carter)

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Abschied
Abschied
Denise 85


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Ein trauriger Anblick
Ein trauriger Anblick
Denise 85

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