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Neydhart von Gmunden


Premium (Basic), Hamburg

Seemannsgarn

Ich staunte nicht schlecht. Da stand ich nun in der Halle der vergessenen
Träume, Geschichten und Sagen. Zu meinen Füßen . . . . Seemannsgarn.
Er zog sich kreuz und quer über den Boden der Halle, wie ein chaotisches
Netz. Doch so chaotisch es auch erschien, ich erkannte, dass alle Fäden
auch wieder zusammenliefen, sich kreuzten, auseinanderstoben. Alles er-
schien doch einen Zusammenhang zu bilden. Ich mußte an mein Studium
denken, so um 1979. Ich höre Gerd Will sagen: Stalin-These 5 „Alles hängt
irgendwie miteinander zusammen“. Ich muß grinsen und bin einmal mehr
erstaunt darüber, wie schnell doch die Zeit vergangen ist. Was sie machen
und wie es ihnen wohl geht, meine Mitstudenten von damals ? So stehe ich
nun gedankenversunken in dieser großen kalten dunklen Halle und schaue
auf das Seemannsgarn, auf die Fäden, aus denen Geschichten geschrieb-
en und erzählt wurden. Aus und vorbei. Ihre Zeit ist abgelaufen. Keine Se-
gelschiffe, keine Totenschiffe mehr. Keine Seeungeheuer, kein Madagask-
ar, keine Pest mehr an Bord, keine Piraten, kein Seemannstod wegen Meu-
terei. Dafür TV satt rund um die Uhr. Oft so flach wie der TV-Bildschirm. Zu
Zeiten der Röhre hatte es passend zu dieser Bild- und Signalübertragung
noch Sendungen mit Tiefgang gegeben. Aber heute . . . . seufz. Da stehen
sie im Hintergrund, fein aufgefädelt, die noch „jungfräulichen“ Garnrollen
und warten darauf, dass jemand kommt und sie abholt, um aus ihrem Fa-
den vielleicht DIE Geschichte der Geschichten zu spinnen. Weißfaden-Rol-
len für die guten Geschichten, also jene, in der das Gute immer gewinnt.
Und dann die Schwarzfaden-Rollen, deutlich weniger. Aus ihnen werden/
wurden die dunklen Geschichten gesponnen. Also jene, die alles andere
als Gut enden. Jene, wo geliebte Menschen sterben, wo sie ihr Herz oder
ihre Seele verlieren, sich gar in Monster verwandeln, in Seeungeheuer, gar
in Vampire. Kalt läuft es mir über den Rücken. Bloß nicht auf einen dieser
Fäden treten. Nicht das er nach mir greift, sich um meinen Fuß wickelt und
mich in eine dieser schauerlichen Geschichten hineinzieht. Vielleicht lau-
ern sie ja nur darauf. Vielleicht haben sie sich selber als Köder ausgelegt,
aus langer Weile, wie ein Angler, der auf Beutefang geht. Ich beschließe
diesen Ort zu verlassen, zügig, nicht zu hastig, um bloß nicht auf einen die-
ser Fäden zu treten. Wer weiß, was dann mit mir geschehen wird ……….

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