Sissy

Sissy

Sie begegnete mir vor längerer Zeit in der psychiatrischen Landesklinik Süchteln.
Wie Sissys richtiger Name ist weiß ich nicht; sie wollte so genannt werden, sagten mir andere Patienten.
Sissy war einmal schöner, sagt man, und klüger war sie auch. Doch das ist lange her, und Sissy hat es vielleicht längst vergessen. Heute irrt sie durch die Anstalt, sucht ihre Mutter, und bettelt Besucher an wie ein Kind.
"Selig sind, die da geistlich arm sind; denn ihrer ist das Himmelreich", sagte einst unser Prophet.
Doch auf diesem Planeten gehört ihnen nichts; hier werden sie nur weggesperrt und mit Medikamenten ruhig gestellt, und viele beachten sie nicht einmal, als gehörten sie nicht zu uns.
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Ach, man wusste so wenig, so verzweifelt wenig von den Menschen!
Hundert Jahreszahlen von lächerlichen Schlachten und Namen von lächerlichen alten Königen hatte man in den Schulen gelernt, und man las täglich Artikel über Steuern oder über den Balkan, aber vom Menschen wusste man nichts!
Wenn eine Glocke nicht schellte, wenn ein Ofen rauchte, wenn ein Rad in einer Maschine stockte, so wusste man sogleich, wo zu suchen sei, und tat es mit Eifer, und fand den Schaden und wusste, wie er zu heilen war.
Aber das Ding in uns, die geheime Feder, die allein dem Leben den Sinn gibt, das Ding in uns, das allein lebt, das allein fähig ist, Lust und Weh zu fühlen, Glück zu begehren, Glück zu erleben; das war unbekannt, von dem wusste man nichts, gar nichts, und wenn es krank wurde, so gab es keine Heilung. War es nicht wahnsinnig?

Hermann Hesse, Klein und Wagner