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Sie war eine Frau, die in der Jugend wohl nicht viel darauf gab, was die Omis und Opis dieser Zeit für Parolen palaverten, ebenso nicht deren im Vorgarten gezüchteten Enkelkinder.
Heute vor 120 Jahren ist meine Großmutter Martha Liepe geboren worden. Sie war wohl die erste Frau, die ich in meinem Leben kennenlernte, die emanzipiert und selbstbewusst war und der Zeit ihrer ZeitgenossInnen stets voraus. Sie orderte beim Schlachter immer wieder Knochen für den Hund, sie bekam diese unter der Theke sozusagen gereicht.
Während des Krieges war sie standhaft SPD Mitglied geblieben und in den 1950er Jahren in ein kleines Behelfsheim in Kronshagen bei Kiel ihrem Sohn (meinem Vater) gefolgt. Sie hatte dort einen schönen Garten. Dort gab es so ganz kleine Erdbeeren mit einem tiefen Geschmack, den ich nie vergessen habe. Nachdem ihr Mann starb, zog sie in eine Wohnung ihres Sohnes in die Nähe von Hamburg.
Ich besuchte Oma fast jeden Tag – Fußweg 15 Minuten von meinem Elternhaus entfernt. Oma hatte einen Fernseher, wir nicht. Und sie kochte immer Hühnersuppe und einen Schokoriegel Mars mit 51 Gramm gab es auch. Hin und wieder flog Matzi der Wellensittich davon und musste in der Wohnsiedlung mittels Wolldecke wieder eingefangen werden. Manchmal auch fühlte sich der Hund vom Vogel gestört und wollte ihn fressen. Dann verfing sich der Vogel mit seinen Krallen in meinen Haaren und flatterte wie wild auf meinem Kopf herum, was mir eine lebenslange Phobie vor lebendigen und toten Flattermännern bescherte.
Oma erzählte viel vom Krieg. Sie berichtet von Feuerstürmen in Dessau und wie Nachbarn ihren Hunden den Hitlergruß beibrachten. Sie sprach davon, wie gerne sie ihren kleinen Tabakladen führte und ein Haus besaß, an acht Parteien vermietet. Sie liebte es mit ihren Hühnern im Garten zu sein.
In ihrer Jugend war sie vor ihrem strengen Vater abgehauen. Der besaß ein großes Ausflugslokal auf dem Lande und sie musste immer in ihrer Freizeit die Leute bedienen, was ihr gar keinen Spaß machte.
Oma Martha war eine kleine starke Frau. 1,47 Meter standen in ihrem Ausweis. Das war auch damals nicht sehr groß. Einmal besuchte sie ihre noch kleinere ältere Schwester Änne. Ein Jugendlicher Schlacks machte sie an: „Wohl nicht alle Tage gewachsen!“, woraufhin Änne diesem mit: „Du kriegst gleich ein paar in die Fresse!“ begegnete.
Martha starb mit 75 Jahren nach einem sehr abwechslungsreichen, sehr bewegten Leben mit Härten und wenig Rente am Ende. Von ihr hatte ich zum ersten Mal das Wort „ausgebombt“ erfahren. Bis zuletzt gab sie mir, ihrem jüngsten Enkel, ihre ganze Liebe.
Ich vermisse sie noch heute.
6. Juni 2021
Oma Martha (links) mit Schwester Änne 1940er Jahre in Dessau.
der ONKEL 1 06/06/2021 11:11
Dein Text hat mich tief beeindruckt. Nicht so sehr, was, sondern wie du es beschreibst. Das sind ganz frische Erinnerungen, jederzeit abrufbar. Die tiefe Zuneigung zu deiner Oma ist in jedem Satz zu spüren.Ob es wirklich pure Lebensfreude war würde ich bezweifeln. Doch wohl eher die Gewissheit diesen ganzen Scheiss überlebt zu haben und trotz harter Arbeit zufrieden zu sein. l.g. werner
Photomann Der 06/06/2021 10:15
noch bevor ich den Text laswollte ich schreiben
pure Lebensfreude! ! !