Block 11
Ende 1940 hatte Höß die grundlegenden Strukturen und Prinzipien eingeführt, nach denen das Lager in den folgenden vier Jahren funktionieren sollte: die Kapos, die die Gefangenen erfolgreich und ständig kontrollierten, die absolute Brutalität eines Systems, das Strafen willkürlich verhängen konnte, und das alles durchdringende Empfinden im Lager, dass ein Häftling, der nicht schnell genug lernte, wie er sich aus den gefährlichen Arbeitskommandos herausmanövrieren konnte, raschen und plötzlichen Tod fürchten musste. Aber es gab darüber hinaus noch eine Einrichtung, die schon in diesen frühen Monaten die „Kultur“ dieses Lagers besonders angemessen versinnbildlichte – Block 11.
Von außen sah der Block 11 (der anfangs Block 13 hieß und 1941 umbenannt wurde) aus wie alle anderen ziegelroten kasernenähnlichen Gebäude, die da in geraden Reihen standen. Aber er diente einem besonderen Zweck – und jeder im Lager wusste das. „Ich hatte Angst, auch nur am Block 11 vorbeizugehen“ sagte Jozef Paczynski. (aus einem BBC Interview) „Ich hatte richtig Angst“ ! Solche Gefühle hatten die Häftlinge, weil Block 11 ein Gefängnis im Gefängnis war – ein Ort der Folter und des Mordes.
Jerzy Bielecki war einer der wenigen, die selbst erfuhren, was in Block 11 geschah, und es überlebte und davon berichtete. Er war eines Morgens so krank und erschöpft gewesen, dass er sich nicht in der Lage fühlte, zu arbeiten. In Auschwitz konnte man nicht mehr um einen Tag der Ruhe bitten, also versuchte er sich im Lager zu verstecken und hoffte, dass seine Abwesenheit nicht entdeckt würde. Zunächst verbarg er sich in der Latrine, aber er wusste, dass er leicht geschnappt werden konnte, wenn er den ganzen Tag dablieb. Also ging er hinaus und tat so, als müsste er auf dem Gelände aufräumen. Unglücklicherweise wurde er von einem Aufseher erwischt und zur Bestrafung in den Block 11 geschickt.
Dort wurde er die Treppe zum Dachgeschoß hinaufgebracht. „Ich kam hinein, und die Dachziegeln waren ganz heiß“ erzählt er, „Es war ein wunderschöner Augusttag. Und es stank, und ich hörte jemanden stöhnen: Jesus, oh Jesus ! Es war dunkel – das einzige Licht drang zwischen den Ziegeln hindurch“. Er blickte auf und sah einen Mann, der an den auf den Rücken gefesselten Händen am Dachbalken hing. „Der SS-Mann holte einen Schemel und sagte: Steig da rauf. Ich legte die Hände auf den Rücken, und er nahm eine Kette und fesselte mich“ Als der SS-Mann die Kette am Dachbalken befestigt hatte, stieß er plötzlich den Schemel weg. „Ich fühlte – Jesus Maria – es waren entsetzliche Schmerzen ! Ich stöhnte, und er sagte: Halt´s Maul, du Hund ! Das hast du verdient“ Dann ging der SS-Mann fort.
Die Schmerzen, als er an den Händen und Armen auf dem Rücken gefesselt da hing, waren grässlich: „Natürlich lief mir der Schweiß die Nase herunter und es ist schrecklich heiß und ich sage „Mami“. Nach einer Stunde brachen die Schultern aus den Gelenken. Der andere Mensch sagte nichts mehr. Dann kam ein anderer SS-Aufseher. Er ging zu dem anderen Mann und ließ ihn herunter. Ich hatte die Augen geschlossen. Ich hing da ohne Geist – ohne Seele. Aber dann hörte ich doch etwas, das der SS-Mann sagte. Er sagte: Nur noch 15 Minuten…
Jerzy Bielecki erinnert sich an wenig mehr, bis derselbe SS-Mann zurückkehrte. „Zieh die Beine an“ sagte er. Aber das konnte ich nicht. Er nahm meine Beine, stellte erst das eine auf den Schemel und dann das andere. Er machte die Kette los und ich fiel vom Schemel und auf die Knie und er half mir. Er hob meine rechte Hand und sagte: „Halt sie da oben“. Aber ich hatte kein Gefühl in den Armen. Er sagte: „Das wird nach einer Stunde besser“. Ich ging mühsam hinunter. Mit dem SS-Mann. Er war ein mitfühlender Aufseher.
Jerzy Bieleckis Geschichte ist aus verschiedenen Gründen bemerkenswert, nicht zuletzt wegen seiner persönlichen Tapferkeit unter der Folter. Aber das vielleicht Überraschendste ist der Unterschied zwischen den beiden SS-Männern: Der eine stieß sadistisch ohne Vorwarnung den Schemel weg, auf dem der Gefangene stand, und der mitfühlende Aufseher half ihm herunter, als die Tortur vorbei war. Das ist ein wichtiger Hinweis: So wie es ganz verschiedene Kapos gab, so gab es unterschiedliche SS-Männer. Wesentlich für das Überleben im Lager war die Fähigkeit, die unterschiedlichsten Charaktereigenschaften zu erkennen, die der Kapos wie die der SS-Männer. Davon konnte ein Leben abhängen.
Auch wenn Jerzy Bielecki verkrüppelt aus dem Block 11 zurückkam – er hatte noch Glück gehabt, denn es war sehr wahrscheinlich, dass einer, der diese Zementstufen hinauf und durch die Tür ging, nicht mehr lebend wiederkam. Bei Verhören quälten die SS-Aufseher die Insassen von Block 11 auf die verschiedensten Arten. Sie benutzten nicht nur die Methode des Aufhängens, die Bielecki erlitten hatte, sondern peitschten die Gefangenen auch aus, wandten die Wasserfolter an, stachen Nadeln unter die Fingernägel, versengten die Gefangenen mit rotglühenden Eisen oder übergossen Insassen mit Benzin und zündeten sie an. SS- Angehörige erfanden in Auschwitz auch neue Foltern aus eigenem Antrieb, wie der ehemalige Häftling Boleszaw Zbozien beobachtete, als ein Gefangener aus dem Block 11 in den Krankenbau gebracht wurde: „Eine besonders im Winter gern angewandte Methode war, den Kopf des Häftlings über einen Koksofen zu halten und ihn so zur Aussage zu zwingen. Das Gesicht war danach völlig verbrannt … Dieser Mensch war völlig verbrannt, er hatte ausgebrannte Augen und er konnte nicht sterben … Die Angehörigen der Politischen Abteilung brauchten ihn noch, sie kamen deshalb fast täglich … ohne das Bewusstsein zu verlieren, starb dieser Häftling nach ein paar Tagen“
Zu der Zeit war Block 11 das Reich des SS-Untersturmführers Max Grabner, eines der berüchtigtsten Lagerangehörigen. Bevor er in die SS eintrat, war Grabner Kuhhirte gewesen; jetzt hatte er Macht über Leben und Tod der Gefangenen in seinem Block. Einmal die Woche ließ er seinen Bunker „ausstauben“. Das geschah so, dass Grabner und seine Kollegen über das Schicksal jedes Gefangenen in Block 11 entschieden. Einige blieben in ihren Zellen, andere bekamen „Strafmeldung 1“, wieder andere „Strafmeldung 2“. Strafmeldung 1 bedeutete Prügel oder sonst eine Folter. Strafmeldung 2 bedeutete sofortige Exekution. Die zum Tod Verurteilten wurden in den Waschraum von Block 11 gebracht und mussten sich ausziehen. Nackt führte man sie dann durch eine Seitentür auf den Hof. Dieser Hof zwischen Block 11 und Block 10 war durch eine schwarz gestrichene Ziegelmauer vom Rest des Lagers abgeschlossen; das war nirgends sonst der Fall. In diesem Hof wurden Gefangene ermordet. Sie mussten sich an die Ziegelmauer stellen – im Lagerjagon die Wand – und ein Kapo hielt ihre Arme fest. Mit einem Kleinkalibergewehr (es wurde benutzt um möglichst wenig Lärm zu machen), das direkt an ihren Kopf gehalten wurde, erschoss sie der Vollstrecker dann.
(Quelle: Auschwitz – Geschichte eines Verbrechens von Laurence Rees)
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Frank G. P. Selbmann 25/08/2020 12:49
(ein echter kontrast zu deiner erotikserie, stefan.) meinen ausschwitz-besuch werde ich niemals vergessen. es war noch weit schlimmer, als ich es mir im vorhinein vorstellen konnte. den hof, wo die inhaftierten exutiert wurden, habe ich noch in deutlicher erinnerung. hoffentlich wiederholt sich ein solches schlimmes verbrechen nie wieder auf der welt!!!liebe grüße franKS
Urs V58 24/08/2020 0:09
Mir fehlen - einmal mehr - die Worte. Und das Grauen, das ich vor einem Jahr beim Besuch gespürt habe, kommt zurück ... ich bin froh, dass es immer wieder Menschen wie dich gibt, die gegen das Vergessen kämpfen! LG Ursroad-flyer 23/08/2020 12:08
Wie grausam kann der Mensch sein ! Feine Doku und Top-Informationen. Danke dafür. Das darf nie wieder auch nur annähernd passieren. LG GünterJoachim Irelandeddie 23/08/2020 10:13
Grausig liest sich die Geschichte dieses Blockes und seiner Peiniger. Man kann es kaum glauben und auch nicht verstehen wozu Menschen fähig sein können und konnten. Die Aufnahme hast du passend dazu bearbeitet. Diese grausamen Zeit darf sich nie wieder holen und nie in Vergessenheit geraten!lg eddie
ammerguide 23/08/2020 10:12
Am Schlimsten ist es wenn Menschen Ihr tun mit dem eigenen Menschenverachtenden ego verbindenAuch im Job, damals so wie heute.
Lg
Oliver