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Oliver Schiebek


Premium (World), Düsseldorf

Das Hörnchen-Orakel

Letzte Woche habe ich mich auf meiner Foto-Tour im Wald tatsächlich verlaufen. Viele Stunden irrte ich umher und es ward langsam dunkel. Der Wald wurde unheimlicher, dichter und ich zerkratzte mir Arme und Gesicht an Gestrüpp und starren Ästen. In der Ferne hörte ich einen Uhu kauzig rufen - und ich gebe zu - mir wurde bang. Völlig erschöpft erreichte ich eine kleine Lichtung mit einem mächtigen Baum, auf dessen dicken Stamm ein Eichhörnchen saß. Ob dies das sagenumwobene Hörnchen-Orakel war, um das sich unendlich viele Mythen und Legenden rankten? Also fragte ich frei heraus: „Bist du das sagenumwobene Hörnchen-Orakel, um das sich unendlich viele Mythen und Legenden ranken?“
„Erweise dich als würdig und alsbald werden deine Fragen beantwortet!“, sprach es.
„Würdig erweisen? Sehr gerne, aber wie?“
„Nimm´ einfach deine Kappe ab!“
Dies tat ich sofort. „Du siehst sehr weise aus. Du lebst bestimmt schon seit vielen hundert Jahren in diesem Baum.“ Im Smalltalk war ich unschlagbar.
„Nein, ich bin erst letzte Woche hier eingezogen.“
„Ah verstehe, aber bist du denn nun…?“
„… das sagenumwobene Hörnchen-Orakel, um das sich unendlich viele Mythen und Legenden ranken?“, beendete es gelangweilt für mich den Satz.
„Ja, genau!“ Verlegen knetete ich die Kappe in meinen Händen.
„Warum ist das wichtig?“
„Nun, ich habe mich verlaufen, kannst du mir helfen nach Hause zu finden?“
„Aber warum ist das wichtig?“, fragte das Hörnchen wiederholt.
„Ich würde gerne meine Lieblingssendung heute Abend nicht verpassen.“
„Das ist ein sehr wichtiger Grund“, nickte es. Wir beide verstanden uns auf Anhieb.
„Lass´ mal sehen…“ Das Hörnchen holte eine Tüte Studentenfutter vom Discounter hervor.
„Was hast du vor?“ Ich war alles andere als hungrig.
„Darin lese ich die Zukunft.“ Mit einem Biss öffnete es die Tüte und streute Nüsse und Rosinen auf den Stamm.
„Geht das denn mit dem billigen Nuss-Mix?“
„Essen würde ich ihn nicht, aber die Zukunft liest sich mit ihm ganz hervorragend. Ahh, ich sehe etwas. Etwas Großes wird kommen!“
„Ich bin Eins Fünfundachtzig, vielleicht siehst du mich?“
„Nein, größer, viel größer. Und es riecht übel.“
Ich roch mir sicherheitshalber unter dem Arm. Nein, alles in Ordnung. Mein Deo hatte nicht versagt. Der kleine Nager sah wohl tatsächlich etwas anderes voraus.
„Es wird dich aufnehmen. Wie schon viele andere vor dir und dich davontragen, an einen anderen Ort!“
Da wurde es mir klar. Das Eichhörnchen sah meine Entführung durch ein Raumschiff einer extraterrestrischen Intelligenz, der es an Körperhygiene mangelt, voraus. Ich fing laut an zu flennen, weil ich grausame Experimente an meinem doch recht zarten Körper befürchtete, fernab von Zuhause.
„Es naht, es naht!“, rief das Hörnchen entsetzt und verschwand im Blätterdach des Baumes.
Ich hörte ein lautes Dröhnen und Knallen, als ein alter Linienbus mit vielen Fehlzündungen und stinkenden Abgasen aus dem Auspuff neben mir zum Stehen kam.
Da hatte ich die Bushaltestelle neben dem mächtigen Baum doch tatsächlich nicht bemerkt.
Rotzverschmiert stieg ich unter den fragenden Blicken der anderen Passagiere ein.
Meine Lieblingssendung habe ich dank des Hörnchens natürlich nicht verpasst, aber bis heute weiß ich nicht, ob es das sagenumwobene Hörnchen-Orakel war, um das sich unendlich viele Mythen und Legenden ranken…

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