Ehrfurcht vor dem Leben
Der zentrale Satz für Albert Schweitzers Ethik lautet: «Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will.» Wer sich dies klar mache, so Schweitzer, könne nichts anders, als anderes Leben zu respektieren und ihm mit Ehrfurcht zu begegnen.
Albert Schweitzer (1875-1965) besucht mit seiner Frau Helene im September 1915 die Frau des Schweizer Missionars Pelot auf der Missionsstation N’Gômô. Er muss dabei rund 200 Kilometer stromaufwärts auf dem Ogowefluss fahren. In seiner Schrift: "Ehrfurcht vor dem Leben" hält er fest:
«Am Abend des dritten Tages, als wir uns beim Sonnenuntergang in der Nähe des Dorfes Igendja befanden, mussten wir einer Insel in dem über einen Kilometer breiten Fluss entlang fahren. Auf einer Sandbank, zur linken, wanderten vier Nilpferde mit ihren Jungen in derselben Richtung wie wir. Da kam ich, in meiner grossen Müdigkeit und Verzagtheit plötzlich auf das Wort ‹Ehrfurcht vor dem Leben›, das ich, so viel ich weiss, nie gehört und nie gelesen hatte.
Alsbald begriff ich, dass es die Lösung des Problems, mit dem ich mich abquälte, in sich trug. Es ging mir auf, dass die Ethik, die nur mit unserem Verhältnis zu den anderen Menschen zu tun hat, unvollständig ist und darum nicht die völlige Energie besitzen kann.
Solches vermag nur die Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben. Durch sie kommen wir dazu, nicht nur mit Menschen, sondern mit aller in unserm Bereich befindlichen Kreatur in Bezug zu stehen und mit ihrem Schicksal beschäftigt zu sein, um zu vermeiden, sie zu schädigen, und entschlossen zu sein, ihnen in ihrer Not beizustehen, soweit wir es vermögen. So werden wir andere Menschen.»
In einer Predigt 1919 stellte er klar, dass es keinen Sinn habe, weiter auf die Lehre der christlichen Nächstenliebe zu vertrauen. Schweitzer hat sich Zeit seines Lebens als Christ verstanden. Aber für ihn war Jesus nicht Gottes Sohn, sondern ein Mensch. Ein vorbildlicher Mensch, in dessen Denken und Handeln das Göttliche sichtbar wird.
Gutes tun wollte Schweitzer in der Nachfolge Jesu. Was das für ihn konkret bedeutete, formulierte er 1908 so: „Religion heißt für mich ‚Mensch sein’, schlicht Mensch sein im Sinne Jesu.“ In einem Brief an Helene Breslau, seine spätere Frau, schrieb Schweitzer 1906: „Was ist denn Gott? Etwas Unendliches, in dem wir ruhen! Aber es ist keine Persönlichkeit, sondern es wird erst Persönlichkeit in uns.“
Schweitzer erhielt 1952 den Friedensnobelpreis.
Aber was machen wir, Christen wie Nichtchristen, die wir uns als die Krone der Schöpfung bezeichnen, mit der Erde, den Vögeln, den Tieren, den Fischen, dem Wasser, der Luft, den Bodenschätzen? Ich sah, wie Bauern aus purer Prifitgier ihre Schweine quälen bis zum Tod. Ich sah Fotos mit Leimruten und Vogelfängern in Italien. Die Vögel sterben jämmerlich und werden dann als Delikatesse in Restaurants angeboten.
Woher nehme ich noch den Mut zu glauben, dass die Menschheit noch umkehren kann zur Ehrfurcht vor dem Leben?
Das Foto entstand 1993 in Ouagadougou.
Scan vom Dia
Ludwig Neukirch 25/11/2020 20:58
Wahre Worte!Grüße L.N.