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Stefan Schwetje


Premium (World), Braunschweig

In den Zaun gehen...

In den Zaun gehen…

Dann kam ein Tag in Auschwitz heran, den ich als meinen schlimmsten in der Erinnerung behalten habe. Vieles habe ich aus meiner Erinnerung gestrichen oder konnte es wenigstens verschwimmen lassen. Aber diesen Tag werde ich nie vergessen.
Ein paar Wochen zuvor waren meine beiden Freundinnen Hanka und Genia in meinen Block eingeliefert worden. Sie waren in schlechter Verfassung; aber es gab gute Anzeichen dafür, dass sie sich erholen würden. Ich war so froh, dass ich mich um sie kümmern und sie besonders betreuen konnte. Bald nach ihrer Einlieferung gab es eine Selektion, die aber nicht mit der üblichen Sorgfalt durchgeführt wurde. Es gelang mir, die beiden, Mutters Methode nachahmend, in einer großen Matratze aus Stroh zu verstecken.
Mutter kam an diesem fürchterlichen Tag mit einem Geburtstagsgeschenk für mich zu meinem Block. Wie sie es fertig gebracht hatte, Tage und Monate mit mir Fühlung zu behalten, weiss ich wirklich nicht. Sie sagte: „Many Happy returns of the Day“ und schenkte mir eine Zwiebel – ein herrlicher Luxus, auf dem Auschwitzer Schwarzmarkt so viel wert, wie eine goldene Uhr. Kaum war Mutter weg, konnte man grüne Uniformen im Revier sehen. Eine weitere Selektion. Sie kamen zu unserem Block. Dieses mal galt die Selektion nicht nur den Sterbenden. Der gesamte Block wurde geräumt und alle, außer dem Personal, sollten sterben.
Der Doktor mit Rapportführer Haase, Rapportführer Taube und andere gingen durch den Block, stachen in und unter jede Pritsche und trieben die Kranken hinaus. Manche Genesende banden sich an ihrer Pritsche fest, aber auch das ging nicht gut. Die SS befahl uns, sie abzubinden und mit zu den anderen hinauszuschleifen. Es gab dieses mal keine Möglichkeit, Hanka und Genia noch irgend jemanden sonst zu verstecken.
Ich hatte gehofft, wir könnten beide nach ihrer Genesung irgendwie in einer Funktionshäftlings – Position unterbringen, um sie vor der gefürchteten Außenarbeit zu bewahren. Irgendwelche Innenarbeiten für sie zu finden, die mit kleinen Privilegien und ein paar Erleichterungen verbunden waren. Nun musste ich mithelfen und sie auf die Lastwagen laden, die draußen warteten, um sie auf die letzte Reise mitzunehmen. Dieses Aufladen geschah mit den Kranken genauso wie mit den Toten: Zwei von uns fassten Schultern und Beine, hoben den schlaffen oder strampelnden Körper hoch, schwangen ihn ein, zweimal hin und her, und warfen ihn dann zu den anderen auf den Lastwagen.
Wir heulten und schluchzten dabei. Und als ich sah, dass Hanka zu denen gehörte, die ich mit hinaufwerfen musste, war mir klar, dass ich sie begleiten würde. Anstatt ein neues Opfer auszusuchen, rannte ich zum Wagen hin und versuchte, zu meinen Freundinnen hinaufzuklettern. Mutter hatte das mit Entsetzen von der Ecke des Blocks her beobachtet, Sie sah, was ich vorhatte, kam angerannt, und mit ein paar Freundinnen vom Personal zog sie mich weg. Die SS mischte sich nicht ein. Ich wünschte, sie würden Mutter aus dem Weg räumen und mich auf den LKW werfen. Aber sie ließen uns das ganze unter uns regeln. Ich wurde von den anderen festgehalten, bis der Lastwagen davongerumpelt war. Dann stolperten wir in den leeren Block zurück und brachen auf dem Fußboden weinend zusammen.
Ich wollte nur noch sterben. Mit eigenen Händen hatte ich dabei geholfen, zwei liebe Freundinnen in den Tod zu schicken. Niemals werde ich den flehenden, entsetzten Ausdruck in ihren Augen vergessen.
Bis dahin hatte ich ums Überleben gekämpft. Jetzt war mein Kampfgeist dahin. Ich hätte mit auf den Lastwagen gehen sollen. Aber es gab ja noch den Zaun. „In den Zaun gehen“ bedeutete: Ein wilder Spurt über einen der Gräben – und dann wäre alles in Sekunden vorbei. Wenn man dem Draht zu nahe kam, dann wurde man durch das Spannungsfeld n den Zaun hineingezogen. Mutter ließ mich nicht aus den Augen.
„Reiß dich zusammen !“ sagte sie immer wieder und wieder. „Eines Tages kommen wir hier raus ! Wir werden es erleben, wenn wir durchhalten ! Du wirst es sehen“ Und immer wieder und wieder sagte sie: „Du darfst nicht aufgeben, nicht jetzt. Gib nicht auf !“
Ich wiederholte die Worte, konnte aber nicht daran glauben. In den Zaun ging ich nicht. Aber tagelang lief ich ziellos umher und wusste nicht, was ich mit mir anfangen sollte. Ich darf nicht aufgeben, ich darf nicht aufgeben, ich darf nicht aufgeben. Es muss geholfen haben. Zwar kam kaum noch eine Spur von Leben in mir, doch genug, um mir über alles hinwegzuhelfen.

(Quelle: Wo die Hoffnung erfriert – Überleben in Auschwitz von Kitty Hart-Moxon)

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