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Saint-Martin-du-Canigou

Saint-Martin-du-Canigou

1 926 2

Th. Maess


Premium (Pro), Ulm

Saint-Martin-du-Canigou

In den französischen Ost-Pyrenäen liegen viele in den Bergen versteckte Abteien, die mich seit langem reizten für einen Besuch und vielleicht mehr noch für eine Begegnung mit einer Hochkultur, die im Verschwinden begriffen ist seit vielen Jahren. Wie schon auf dem Jakobsweg, gehe ich rund Tausend Jahre in die Vergangenheit, wenn ich den Steinen und ihrem Spirit zuhöre, wenn ich durch Klostergärten streife, erhabenen Schritts durch die Kreuzgänge der Abteien spaziere oder den ausgetretenen Stufen hinab in die Krypta folge, auf denen unzählige Mönche und Nonnen ihren Brüdern und Schwestern letzte Ehrungen erwiesen. Zweifellos ist Saint Martin oberhalb von Castein, in der Nähe des „Heiligen Berges der Katalanen“, dem „Pic du Canigou“, eine der schönsten Abteien der Benediktiner des Hochmittelalters in Frankreich. Um das Jahr 1000 von einem Grafen Wilfried II. und seiner Frau Gisela, wurde das Kloster inmitten des unzugänglichen Bergmassivs des Canigou gegründet. Wer es heute besuchen will, muss sich anstrengen. Das Auto muss stehen bleiben und ein etwa einstündiger holpriger Berganstieg muss zu Fuss bewältigt werden. Ich komme in aller Morgenfrühe an, nach langer Fahrt von Montpellier hier hinauf in vielen Serpentinen in die Bergwelt. Es ist noch sehr frisch in etwa 800 Meter Höhe. Ich trinke in dem kleinen Ort Castein einen „Café au laite“, bevor ich meine Füße in Marsch setze. Schon als Kind war ich nach jeder Biegung neugierig, ob ich schon was vom ersehnten Ziel sehen kann. Das hat sich bis heute nicht geändert. Dem Glockenturm gilt der erste Blick aufs alte Gemäuer. Nach nach erscheint das ganze Kloster und seine Dimensionen erstaunen mich. So hoch auf dem Berg zu bauen, muss eine besondere Anstrengung gekostet haben. In der Bulle des Papstes Sergius IV. vom November 1011 erlaubt der Heilige Stuhl dem Gründer Graf Wilfried zur Vergebung der Sünden ein Kloster zu bauen. Vielleicht waren die Sünden des Grafen so groß, dass eine besondere Anstrengung pädagogisch sinnvoll schien, den Bau des Klosters besonders zu erschweren. Der Legende nach soll Wilfried seinen Neffen einst umgebracht haben. Dieser Neffe hieß Martin. Eine Sühne für die Tat liegt also nahe. Kurz, ich erwarb in der Kasse ein Privileg zu einer Besichtigung; zu meinem Erstaunen bekam ich als einziger Gast im Morgengauen eine exzellente Führung von Angelie. Sie schloss mir sogar Gemächer auf, die sonst für Touristen nicht zugänglich sind. Das Kloster weist wunderbare Kapitellarbeiten auf, eine harmonische Abfolge an den Säulen des Hauptschiffes und im Kreuzgang. Ich bin begeistert von den feinen Bildhauerarbeiten der zweigeteilten Kapitelle. In der oberen Reihe drohen Fabelwesen Ungemach, in der unteren Reihe wehren sich die Heiligen dagegen. Es ist Anschauungsunterricht pur für die Gläubigen des Mittelalters. Der große mittelalterliche Theologe Bernard von Clairvaux hielt diese Kunst der Kapitelle für geschmacklos und ungeistlich. Mir fällt die große Ähnlichkeit auf, mit der die Kapitelle in Südfrankreich geformt sind. Der Kunsthistoriker Josep Guidol hat 1944 wegen dieser Ähnlichkeiten einen „Meister von Cabestany“ ausgemacht, der im ganzen Gebiet der Toskana und im Languedoc und im Gebiet von Roussilon wie ein wandernder Bildhauer unterwegs gewesen sein muss. Wie zu jenen Zeiten üblich, reiste man mit seiner gesamten Werkstatt umher, um die Aufträge der Klöster zu erfüllen. Ich fand das plausibel, zumal die wenigen Kapitelle in Sankt Antimo in der Toskana, die eher reichhaltigen in Conques und in Saint-Guilhem-le-Désert tatsächlich auf eine Hand hindeuten. Nun also um eine Kenntnis reicher, setzten wir den Rundgang durchs Kloster fort. Die Krypta war unglaublich harmonisch erhaben in ihrer Schlichtheit. Ich durfte fotografieren, wie ich wollte – keine Selbstverständlichkeit mehr in Zeiten des umkämpften Bildermarktes. In der Kirche, die mich sofort einnahm und die mir von alters her vertraut schien, holte ich meine Mundharmonika heraus und spielte wie gewohnt einen Hymnus von Taize, was die Führerin Angelie animierte, sofort einzustimmen. Jetzt fehlte nur noch der Geist des ersten Abtes Oliba, der im 11. Jahrhundert das Kloster Sankt Martin zu einem erfolgreichen Ort für Friedensstiftungen zwischen den vielen Herrschern in Nordspanien und Südfrankreich machte. Wir verabschiedeten uns mit einer zögernden Umarmung, und ich stieg wieder hinab zu meinem Auto, ein bisschen beseelt vom romanischen Bau in dieser gottverlassenen Gegend. Später las ich nach, dass die letzten Mönche 1779 wegen wirtschaftlichen Problemen das Kloster verließen. Erst im 20. Jahrhundert wurde das Kloster wiederbelebt, restauriert und wird heute von der katholischen Gemeinschaft der Seligpreisungen geführt. Mich hat es angerührt, wie freundlich ich dort oben aufgenommen und begleitet wurde. Und ich stelle einen deutlichen Unterschied fest, ob eine Besichtigung einem toten oder einem lebendigen Klosterbau gilt.

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Dossier Jakobsweg
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