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Schlittenfahren auf Kohlehalden (2013) und wilden Streiks  im Ruhrpott (1969)

Schlittenfahren auf Kohlehalden (2013) und wilden Streiks im Ruhrpott (1969)

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Johannes Zakouril


Premium (Pro), Neu-Ulm

Schlittenfahren auf Kohlehalden (2013) und wilden Streiks im Ruhrpott (1969)

Deutschland ist zu reich, seine Industrie ist zu mächtig«, so schrieb der gaullistische »France-Soir« noch vor wenigen Monaten, »weil die Deutschen geduldig darauf warten, daß ihnen der Arbeitgeber eine kleine Lohnerhöhung gewährt. Und sie streiken niemals.«

In der vergangenen Woche war Deutschland noch immer reich, aber die Industrie nicht mehr so mächtig. Denn die Arbeiter mochten sich nicht länger mit kleinem Lohn bescheiden. Sie streikten, wie noch nie in der Bundesrepublik gestreikt wurde.

»Vom Hochofenfeuer ist die Glut ins Land getragen worden«, stellte Herbert Zigan. Hauptgeschäftsführer des Arbeitgeberverbandes in Düsseldorf, fest. Zwischen Förde und Saar, Donau, Rhein und Weser wurde der Streikfunke gezündet.

Kolonnen von Ausständischen formierten sich schon am vorletzten Dienstag in Dortmund bei der Hoesch AG (Transparent: »Hoesch -- ein Name für Stahl, aber billige Löhne"), dann sprang der wilde Streik auf die Fabriken von Mannesmann, Rheinstahl und Neunkircher Eisenwerke über. Gegen Wochenende folgten die Beschäftigten der Klöckner-Werke in Bremen und Osnabrück. Den Streikenden schlossen sich weiter an: die Eisenwerker der Oberpfälzischen Hüttenindustrie, die Kumpel der Saarbergwerke, ein Teil der Bergarbeiter an der Ruhr und die Belegschaft der Kieler Howaldtswerke.

In mehr als 40 Betrieben legten über 78 000 Stahlwerker und Kumpel spontan, ohne Urabstimmung und Genehmigung der Gewerkschaftsvorstände, für Stunden oder Tage alle Räder still. Binnen einer Woche streikten in der Bundesrepublik doppelt so viele Arbeiter wie im ganzen Jahr 1968. In der eisenschaffenden Industrie, dem Zentrum des Ausstandes, waren im vergangenen Jahr nur wenige Tage durch Streik verlorengegangen.

Rhythmische Chöre: »Ausbeuter, Ausbeuter« und »Deutscher Arbeiter, erwache« drangen von Straßen und Plätzen in die kultivierten Direktionsetagen der Industrie. Hufe: »Wir lassen uns von euch nicht verschaukeln« schreckten die längst saturierien Gewerkschaftsführer aus ihrer behaglichen Routine.

Otto Brenners IG Metall, seit über zwei Jahrzehnten die kampfstärkste Arbeitnehmerorganisation, hat in der vergangenen Woche ihre größte Schlappe erlitten. Zehntausende organisierter Eisenwerker, Former und Gießer nahmen ihre Interessen wahr, ohne die Frankfurter Zentrale zu bemühen. Obwohl über 90 Prozent der Beschäftigten dieser Branche organisiert sind, handelten die Arbeiter vorsätzlich gegen das Reglement. nur nach geheimer Urabstimmung im Betrieb und nach Zustimmung des Gewerkschaftsvorstandes Kampfmaßnahmen zu beginnen. Sie verzichteten damit auf die ihnen sonst zustehende Unterstützung aus der Streikkasse.

Der Einsatz freilich hat sich gelohnt. Auf eigene Faust erstritten sie binnen weniger Tage Lohnerhöhungen von elf Prozent, rückwirkend vom 1. September an. Das ist mehr, als die IG Metall noch jüngst für die Beschäftigten der metallverarbeitenden Industrie in langen Tarifgesprächen herausholen konnte, und mehr, als hei den Verhandlungen in der eisenschaffenden Industrie ohne wilde Streiks zu erwarten gewesen wäre.

Das Staunen über den Vierten Stand war in den Metropolen der Industrie ebenso groß wie in Bonn, und nicht nur Bundeskanzler Kiesinger suchte die Anstifter außerhalb der Arbeiterschaft, vornehmlich in Ost-Berlin. Aber weder DKP noch Apo, die sich mit klassenkämpferischen Parolen einzuschalten versuchten, konnten an dem Ausstand Urheberrechte anmelden. Westdeutschlands wilde Streiker blieben selbst an den heißesten Tagen systemtreu: Sie verbrannten rote Fahnen, rissen Apo-Jünglingen die Mikrophone aus der Hand und jagten DDR-Fernseh-Teams davon.

Das für Eisen und Stahl zuständige Vorstandsmitglied der IG Metall, Willi Michels, erfuhr von den wilden Streiks stets erst über Telephon. Bundespräsident Gustav Heinemann weilte gerade bei Michels zu Besuch, als die Nachricht eintraf, bei Klöckner in Bremen werde gestreikt. Michels bat den Gast um Entschuldigung: »Gustav, sei mir nicht böse, ich muß nach Bremen.«

Dort hatten sich die 6000 Arbeiter der Klöckner-Hütte erhoben und zunächst 50 Pfennig, später 72 Pfennig Lohn-Zuschlag verlangt. Arbeitsdirektor und Brenner-Freund Friedrich Düßmann sah sich von Belegschaft und Betriebsrat attackiert. Ein Pappschild am Werkstor verkündete: »Wir kämpfen hier um höheren Lohn, schickt den Düßmann in Pension.«

Streikposten blockierten die Werkszugänge, und selbst die Mitglieder des Direktoriums konnten jeweils erst passieren, nachdem sie sich einer umständlichen Ausweis-Prozedur unterworfen hatten. Nahezu eine Woche lang amtierten die Klöckner-Direktoren im Bremer Parkhotel.

Als Michels samt seinen IG-Metall-Vertretern anrückte, wurden sie von den Streikern mit dem Vorwurf empfangen: »Ihr habt drei Jahre lang geschlafen, jetzt wollt ihr uns die Schau stehlen.«

An allen Streikplätzen hörten die Gewerkschaftsfunktionäre plötzlich ungewohnte Töne. Vor dem DGB-Haus in Saarbrücken riefen 4000 Knappen im Chor: »Schloofköpp, Schloofköpp.«

Max Schneider, der Betriebsratsvorsitzende des Saar-Bergwerks Camphausen und Mitglied des Hauptvorstands« wurde von den Kumpel als »Arbeiterverräter« und »Bonze« beschimpft. Schneider war verzweifelt: »Um mein Image aufzupolieren, müßte ich schon jemanden abschlachten oder sonst was tun.«

In Dortmund versuchte der IG-Bergbau-Bezirksleiter Neumann vor dem Haus des DGB drei Stunden lang, die Kumpel von der Zeche Minister Stein zur Arbeit anzuhalten. Die 3000 brüllten immer wieder: »Neumann raus, Neumann raus.« Schließlich packte der Funktionär sein Megaphon ein und verschwand.

Anstelle der hauptamtlichen Arbeitnehmervertreter wählten die Streikenden Sprecher aus ihrer Mitte und schickten sie in die Vorstandsetagen. So sah sich Saarbergwerk-Generaldirektor Dr. Hubertus Rolshoven plötzlich dem Elektrohauer Artur Mayfarth, 42, als Abgesandtem der 20 000 Saar-Kumpel gegenüber. Ihn hatten die Demonstranten gewählt, die morgens vor das Hauptverwaltungsgebäude nahe dem Saarbrücker Bahnhof gezogen waren.

Rolshoven versuchte Mayfarth und dessen Anhang mit dem Argument zu beeindrucken: »Die Leute müssen die Arbeit wiederaufnehmen, sonst haben wir langsam keine Freunde mehr in der Bundesrepublik. Denken Sie an die riesigen zugesagten Mittel Bonns zur Umstrukturierung an der Saar. Das ist jetzt in Gefahr.«

Aber der Mann im Blauen Anton fühlte sich tausendfach gestärkt. Mayfarth: »Ich und nur ich habe das Vertrauen der Leute da unten, und ich will ihnen sagen können, ihr habt eine spürbare Lohnerhöhung gekriegt.«

Ähnlich bildeten die Kumpel der Dortmunder Zechen ein 18köpfiges Streikkomitee. Zum Wortführer erkoren sie den Schlosser Fred Olschewski, 40, der von einem VW-Bus herunter zu den Streikenden sprach.

Von Anfang an war die Position der wilden Streikführer besser als die der hauptamtlichen Funktionäre, denen langfristige Tarifabkommen die Hände banden. Bezirksleiter Erwin Essl beispielsweise von der IG Metall Bayern beschwor die Arbeiter der Maximilianshütte in Sulzbach-Rosenberg: »Wir sind an unseren Tarifvertrag gebunden, wir stehen in der Friedenspflicht.«

Friedrich Flicks bayrische Stahlkocher wählten 15 Männer als ihre Führer. Vorstandsmitglied Professor Knüppel beschied die Delegation, sofortige Lohnverhandlungen seien nicht möglich, weil seine drei Vorstandskollegen auf Reisen seien. Daraufhin stellte die Belegschaft die Arbeit ein, und kurz darauf war der Vorstand vollzählig im Münchner Hotel Continental zur Stelle.

Allgemein war den Streikenden in Nord, Süd und West das Gefühl, von ihrer Gewerkschaft verlassen, von Bonn vergessen und von den Unternehmern übertölpelt worden zu sein. Zu spät hatten Otto Brenners Vertrauensleute in den Betrieben das Unbehagen registriert, Alarmmeldungen, einiger Arbeitsdirektoren waren nicht ernstgenommen worden.

Das Unbehagen wuchs, als für jeden Eisenwerker sichtbar wurde, daß die Geschäfte wieder auf Hochtouren laufen. Niemals zuvor, auch nicht während des Korea-Krieges, haben Deutschlands Stahlkonzerne mehr produziert und besser verdient als heute. Ihre Gewinne steigen seit Monaten schneller als die Umsätze. Und die Rohstahl-Erzeugung wird 1969 auf die neue Rekordhöhe von 46 Millionen Tonnen klettern, fast vier Millionen Tonnen mehr als 1968.

Seit dem Frühjahr brauchen die vier Kontore der westdeutschen Stahlindustrie ihre Produkte nicht mehr zu verkaufen, sie verteilen den Stahl nach Kontingenten. Selbst chronisch schwindsüchtige Unternehmen wie die bundeseigene Salzgitter AG melden im Absatz nur Erfolge.

Für Betonstahl, der Mangelware wie zu Schwarzmarktzeiten ist, können die Händler beispielsweise Preisaufschläge bis zu 100 Prozent verlangen. Für den offiziellen »Listenpreis« von 450 Mark ist keine Tonne zu haben, die Baufirmen müssen 900 Mark berappen.

Noch drei Jahre zuvor, im Herbst 1966, standen an der Ruhr Walzstraßen still, von 145 Hochöfen waren weniger als 100 in Betrieb, und jeden Monat setzten die Stahlbosse rund 1000 Arbeiter auf die Straße. Die deutsche Eisen-Branche steckte in der Krise, weil in allen Industrieländern der Welt mehr Stahl erzeugt als verbraucht wurde. Billiger Auslandsstahl drückte auf den deutschen Markt und trieb die Unternehmer in einen so ruinösen Preiskampf, daß Wirtschaftsminister Schiller nach seinem Amtsantritt der Industrie an Ruhr und Saar und in Niedersachsen erlauben mußte, Kartelle mit einheitlichen Preisen zu errichten.

IG-Metall-Chef Otto Brenner hatte für 1966 auf jegliche Lohnforderungen für seine Stahlarbeiter verzichtet und gehofft, so wenigstens die Arbeitsplätze zu sichern. Doch die Erhardsche Wirtschaftskrise verschärfte die Stahlflaute noch; bis 1967 mußten etwa 35 000 Arbeiter und Angestellte aus der angeschlagenen Branche sich nach neuen Jobs umsehen.

Noch im Mai 1968, als wieder Tarifverhandlungen für die eisenschaffende Industrie anstanden, saß der Schock den Gewerkschaftlern in den Gliedern. Obgleich das Ende der Rezession abzusehen war und die Schillerschen Konjunkturspritzen bereits zu wirken begannen, unterschrieben die IG-Metall-Funktionäre einen auf 18 Monate befristeten Vertrag, der den Arbeitern lediglich fünf Prozent mehr Lohn für die zweite Hälfte 1968 und zwei Prozent mehr vom 1. März 1969 an garantierte.

Mit der extrem langen Vertrags-Laufzeit von 18 Monaten manövrierten sich Otto Brenners Unterhändler selbst in die Zwangslage, bis zum 30. November dieses Jahres die sogenannte Friedenspflicht üben zu müssen: Das heißt, sie durften bis zum Ablaut des Vertrages keine neuen Lohnforderungen an die Arbeitgeber stellen oder Kampfmaßnahmen androhen.

Tatenlos mußten die Arbeiter-Vertreter deshalb seit Januar dieses Jahres mit ansehen, wie die Stahlproduzenten sich anschickten, die Früchte des neuen Booms zu sammeln: Hoesch-Generaldirektor Dr. Friedrich Harders versprach seinen Aktionären eine Erhöhung der Dividende von acht auf zehn Prozent, Thyssen-Chef Hans-Günther Sohl stellte sogar zwölf Prozent plus drei Prozent .Bonus in Aussicht.

Alle Stahlkonzerne planen überdies mit den Milliarden aus ihren vollen Kassen riesige Investitionen. Die Duisburger Klöckner-Werke AG will 500 Millionen Mark in neue Anlagen stecken, Hoesch in Dortmund sogar 1,5 Milliarden Mark.

Der neue Röhrengigant Mannesmann-Thyssen richtet sich auf den größten Ost-Exportauftrag in der deutschen Wirtschaftsgeschichte ein die Lieferung von Erdgas-Rohren an die Sowjet-Union im Wert von 1,5 Milliarden Mark.

Die gigantische Stahl-Konjunktur hat selbst den lange Jahre notleidenden Steinkohlenbergbau wieder zu einer gewinnträchtigen Industrie werden lassen. Die Eisenhütten verfeuern so viel Koks, daß die laufende Produktion der Kokereien längst nicht mehr ausreicht und die Halden abgeräumt worden sind. 1967 lagerten auf den Zechenplätzen 5,5 Millionen Tonnen unverkäuflicher Koks, heute halten die Gruben 60 000 Tonnen auf Vorrat, nicht einmal eine Tagesproduktion.

Auch die Steinkohlenhalden werden von Monat zu Monat flacher. Bis Ende 1966 mußten 20 Millionen Tonnen Steinkohle auf Halden gekippt werden, derzeit lagern nur noch acht Millionen Tonnen bei den Zechen. Keine Grube behauptet mehr, sie müßte ihre Produkte zu Verlustpreisen abgeben.

An ihre Anteilseigner sandten die Konzerne frohe Botschaften frei Haus. In Aktionärsbriefen priesen sie ausschweifend die günstige Auftragslage sowie die fetten Gewinne. Betreten lasen die durch ihre Friedenspflicht gehandikapten Gewerkschafts-Funktionäre und die Betriebsräte in den Unternehmen mit (siehe SPIEGEL-Interview Seite 33).

Jahrelange Versäumnisse der Tarifpartner und alte Betriebs-Ungerechtigkeiten sorgten in vielen Betrieben dafür, daß der Streikfunke schnell angefacht wurde und das »Buschfeuer« ("Die Welt") sich ausbreitete.

Beim Hoesch-Konzern hatten drei Jahre nicht ausgereicht, in den drei Hütten-Betrieben ein einheitliches Lohnsystem einzuführen (SPIEGEL 37/1969). Auch Klöckner zahlt seinen Hüttenwerkern in Bremen und Osnabrück für gleiche Arbeit ungleichen Lohn. In Kiel entzündete sich der Streik an dem Lohnunterschied zwischen Werftarbeitern der Howaldtswerke an der Förde und ihren Kollegen an der Elbe. Die hamburger Schiffsbauer von Howaldt erhalten für die gleiche Arbeit 38 Pfennig mehr.

Am Dienstag vergangener Woche traten deshalb von den 7246 Howaldt-Arbeitern 2000 in den Ausstand. SPD-Landesvorsitzender Steffen: »Durch den Streik wird der Öffentlichkeit ein Zustand ins Bewußtsein gebracht, der gelinde gesagt als Schweinerei bezeichnet werden kann.«

Am Mittwoch streikten fast 7000. und auf dem Werftgelände Dietrichsdorf in Kiel rührte sich keine Hand, als vor geladenen Ehrengästen ein 108 Meter langes Frachtschiff für die Stockholmer Reederei Bergnings og Dykeri vom Stapel gelassen werden sollte. Howaldt-Arbeiter hatten die Taufkanzel mit Lohnparolen geschmückt. Erst am Abend konnte eine Gruppe Ingenieure und Meister das Schiff zu Wasser bringen.

Howaldt-Vorstand Dr. Henke mokierte sich, offenbar sei der Betriebsrat von den Arbeitern überspielt worden. In der Tat hatten sowohl die Betriebsräte wie die IG Metall jahrelang wegen der 38-Pfennig-Differenz nur »gewarnt«. In einer Resolution der Werftarbeiter hieß es dann auch ausdrücklich: »Der Streik richtet sich in erster Linie gegen die Haltung unseres Betriebsrats, der sich bisher um das Lohngefälle nicht genügend gekümmert hat.«

An der Saar fühlten sich die Bergarbeiter gegenüber den Kumpels an der Ruhr unterbezahlt. Traditionsgemäß gelten an der Saar die Tariflöhne zugleich als Höchstlöhne. Dagegen werden den Ruhr-Bergleuten auf den Tariflohn eine Reihe von Zuschlägen gezahlt. Ergebnis: Ein Saar-Hauer verdient pro Schicht durchschnittlich 29,60 Mark, sein Kollege an der Ruhr dagegen 43,61 Mark.

Vor der Zeche Camphausen machte am Montag vergangener Woche der Lohnstreifen eines Ruhr-Hauers die Runde, auf dem 1300 Mark Monatslohn verzeichnet waren. Vor der Zeche beschlossen die Kumpel: »Wir wollen den gleichen Lohn wie der Ruhr-Bergmann, sonst fahren wir nicht ein.

Dem wilden Streik folgte schnell der Lohn. Für die Hoesch-Hüttenwerker war es am Mittwoch vorletzter Woche fast so stimmungsvoll »wie in den größten Tagen von Borussia Dortmund« ("Süddeutsche Zeitung"). Triumphierend verlas Betriebsratsvorsitzender Albert Pfeiffer den Streikern vor der Hoesch-Hauptverwaltung die Erfolgsmeldung: 30 Pfennig mehr Stundenlohn vom 1. September an, keine Anrechnung bei den Tarifverhandlungen und volle Bezahlung der Streikstunden. Die Arbeiter sangen: »So ein Tag, so wunderschön wie heute« und zogen zurück in die Hütten.

Bei Mannesmann und Rheinstahl begannen die Räder wieder zu laufen, nachdem der Vorstand für den September einen 50-Mark-Abschlag auf das künftige Verhandlungsergebnis der Tarifpartner sowie 30 Pfennig mehr Stundenlohn zugestanden hatte.

Auch die Saar-Bergwerke beeilten sich, die Forderungen der Kumpels zu erfüllen. Künftig verdient jeder Bergmann pro Monat im Schnitt 75 Mark mehr. Außerdem erhalten alle Kumpel eine einmalige Abfindung von 310 Mark, mit der das Lohngefälle, das bis zum 1. September zwischen Saar- und Ruhrbergbau bestand, ausgeglichen werden soll.

An der Ruhr holte Bergarbeitei -- Führer Walter Arendt in einem vorgezogenen Tarifgespräch 3,50 Mark Zulage je Kumpel und Schicht heraus. Ferner steht allen Bergarbeitern jährlich eine Treueprämie von 312 Mark zu, die steuerfrei für die Vermögensbildung verwendet wird. Der Mindesturlaub wird 1970 auf 20 Tage erhöht, die Arbeitskleidung auf Werkskosten gewaschen. Das Durchschnittseinkommen eines Vollhauers unter Tage steigt von 944 auf 1019 Mark.

Arendt: »Es war die schnellste Verhandlung, die es jemals im Bergbau gab. Es ist bedauerlich, daß nur dann sofort reagiert wird, wenn Fensterscheiben klirren und Tomaten geworfen werden.« Die Lohnrunde kostet die Zechen jährlich 525 Millionen Mark.

Nach der wilden Woche gaben vorsorglich einige Unternehmer, bei denen nicht gestreikt wurde, freiwillig einen Lohnzuschlag. VW-Generaldirektor Kurt Lotz teilte dem Betriebsrat dieser Tage mit, daß er das Auslaufen des Tarifvertrages zum 31. Dezember nicht abwarten, sondern schon jetzt die Löhne erhöhen will. Die Bayerischen Motorenwerke gewährten ihren Arbeitern eine Zulage von 40 Pfennig je Stunde.

Am Freitag letzter Woche, frühmorgens kurz nach fünf Uhr, einigten sich auch der Arbeitgeberverband Eisen- und Stahlindustrie und die IG Metall in einer eilends einberufenen Tarifrunde, die Löhne vorzeitig um elf Prozent zu erhöhen und rückwirkend vom 1. September an zu zahlen. Nach der jetzt vorgenommenen Tarifanhebung erzielen die Eisen- und Stahlwerker einen Brutto-Monatsverdienst von durchschnittlich 1137 Mark (bisher 1025 Mark).

Die Unternehmer-Verbände erklärten, der ungesteuerte Ausstand habe die Unsinnigkeit der gewerkschaftlichen Mitbestimmung sichtbar gemacht. Denn gerade in den Unternehmen, in denen Gewerkschaftler die Aufsichtsräte paritätisch besetzt hielten und zudem ein Arbeitsdirektor für die Personalgeschäfte verantwortlich sei, habe sich der wilde Streik entzündet. Diese Tatsache beweist freilich eher, daß die paritätische Mitbestimmung den Gewerkschaften nicht jenes Machtmonopol beschert, das die Arbeitgeber sonst als Schreckensbild hinstellen.

Zum Wochenende kam das Tarifgefüge in der Bundesrepublik weiter ins Rutschen. Die Gewerkschaften Druck und Papier, Eisenbahn, Leder, Post, Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr sowie Handel, Banken und Versicherungen meldeten für insgesamt 2,3 Millionen Beschäftigte vorzeitig Forderungen nach höheren Löhnen und Gehältern an.

In Bonn brachten Wirtschaftsminister Karl Schiller und sein Parlamentarischer Staatssekretär Klaus Dieter Arndt die Streiks auf den ökonomischen Nenner. Arndt meinte, die Arbeitskämpfe seien der »Startschuß für die Anpassungsinflation«. Die Lohnerhöhungen würden den Unternehmern als »Alibi für höhere Preise« dienen. Schiller ist überzeugt, daß die Streiks nicht aufgeflammt wären, wenn Kanzler und CDU/CSU ihm nicht die Möglichkeit genommen hätten« die Konjunktur rechtzeitig durch eine Mark-Aufwertung zu bremsen.

Der Minister hat einen Ordner angelegt, in dem er Briefkopien von Maschinenfabriken, Gießereien, Gußstahlwerken und anderen Eisen- und Stahlunternehmen sammelt. Darin hätten die Firmen ihren Kunden zum 1. Oktober dieses Jahres Preiserhöhungen von jeweils »acht, neun und zehn Prozent« (Schiller) angekündigt. Zum 1. Januar 1970 seien noch einmal drei, vier oder fünf Prozent fällig.

Wenn erst die Wahl vorüber sei, so Schiller, würden die Unternehmer der bislang »verbandsmäßig zurückgestauten Inflation« die Zügel schießen lassen. Schiller: »Dann gehen die erst richtig ran und nehmen, was der Markt hergibt.«

Letzte Woche bereits kündigte Heinz P. Kemper, Aufsichtsratsvorsitzender der neuen Ruhrkohle-Einheitsgesellschaft, dem Minister an, der Konzern werde die Kohlenpreise am 1. Oktober um zehn Prozent erhöhen. Quelle: Spiegel14.9.1969

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