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Der Michel aus...


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Commentaire 1

  • Susanne Marx 06/04/2015 14:47

    Das Unheil beginnt lautstark: mit dem Aufheulen einer Kettensäge im ersten Morgengrauen, beklemmend ähnlich dem Armesünderglöckchen, das zur Hinrichtung ruft. Jetzt sägen sie wieder und gesägt wird, was Blätter trägt. Offenbar bin ich ein wenig naiv, halte ich es doch für Glück und Gewinn, Laubbäume im Garten zu haben. Die Nachbarn indes sehen das anders. Sie finden alte Obstbäume oder die traditionelle Fliederhecke "unordentlich" und mithin höchst entbehrlich, und damit sind sie nicht allein. Regelmäßig und rundum nämlich kommt es nach dem Sägen noch schlimmer: Wo Blatt war, wird Nadel gepflanzt, etwas Praktisches, Pflegefreies und Immergrünes vom Meter, vorzugsweise Thuja oder Zypresse. Wehrlose Pflanzen werden dazu missbraucht, kerzengerade angetreten und die Reihen fest geschlossen, ganze Viertel zu verdüstern. Als Solitär, in passender Umgebung und mit Luft zum Atmen, könnten sie ihre schwermütige Würde und ihre aparte Silhouette ebenso dekorativ wie angemessen zur Schau tragen. Auch auf Friedhöfen sind sie durchaus artgerecht untergebracht, ist hier doch die depressionsfördernde Wirkung von mattem, borstigem Staubgrün en masse sicher nicht unerwünscht.
    DIE ZEIT Nº 10/200327. Februar 2003