Täuschung oder keine Täuschung ?
ALPINISMUS
ÖTZI WAR ERST DER ANFANG
Entdeckerfieber in den Alpen: Die Klimaänderung läßt die Gletscher schwinden. Geschichtliches, Gefährliches, Grausiges kommt ans Tageslicht
Von FOCUS-Redakteur Frank Gerbert 22.10.2008
200 Meter weiter oben stürzt ein Eisturm ab und zersplittert in tausend Teile. Immer wieder tönt aus dem Gletscher ein dumpfes Krachen; Steine poltern von den nackten Schutthalden, die der schrumpfende Eisstrom zurückgelassen hat.
Und dann sind da die Wrackteile. Schimmernd wie eine Perlenkette liegen sie am Gletscherrand, blitzsaubere, rostfreie Metallstücke, manche über drei Meter lang. Bei mehreren ist die Aufschrift ?707? sichtbar. Scharf gezackte Bruchkanten lassen vergangenen Schrecken erahnen.
Eis-Gebein: Bergführer Christian Mollier und Fotograf Robert Bösch legen die Steigeisen an und klettern den blauschimmernden Wall hinauf. Unter Dutzenden weiterer Trümmer entdecken sie auch einen Knochensplitter. Später, auf einem 300 Meter höher gelegenen Gletscherplateau, werden wir noch einen Oberschenkelknochen, Teile einer Hirnschale und eine Kopfhaut mit schwarzen Haaren finden.
Tote ohne Ruhe: Als eine Boeing 707 der Air India, unterwegs von Bombay nach Genf, am 24. Januar 1966 knapp unterhalb des Montblanc-Gipfels zerschellte, rechneten Experten mit einer rund 40jährigen Talfahrt der Trümmer im Eis. Doch schon Anfang dieses Jahrzehnts tauchten die ersten Überbleibsel rund 3000 Meter tiefer auf, und jetzt, Ende Juli 1995, staunt selbst Christian Mollier, der beste Kenner dieses Gletschers, über die Massen von Fundstücken.
Nur sieben der 117 Opfer waren geborgen worden, bevor starke Schneefälle ein weißes Leichentuch über den Ort der Katastrophe breiteten. Für die meisten Insassen wurde der Bossons-Gletscher zum kühlen Grab ? doch nicht zur letzten Ruhestätte: Jetzt kommen die zerstückelten Körper ans Tageslicht, und niemand macht sich die Mühe, die traurige Fracht zu sammeln und zu bestatten. Christian Mollier: ?Die Polizei will nichts davon wissen. Nur bei Köpfen versuchen sie eine Identifizierung.?
Seit 1982, und verstärkt seit Beginn der neunziger Jahre, bringen die gestiegenen Temperaturen die alpinen Eisströme ins Schwitzen. Folge: Sie verlieren stark an Länge und Dicke. Um 800 Meter ist in dieser Zeit der Bossons-Gletscher kürzer geworden, an Mächtigkeit hat er 40 Meter verloren.
Die Rückkehr der Geiseln des Frosts: ?Bei erhöhten Abschmelzbedingungen kommen Gletscherleichen früher an die Oberfläche?, erklärt Walter Ambach, Leiter des Instituts für Medizinische Physik der Universität Innsbruck. ?Es gibt vermehrt Funde ausschmelzender Gegenstände?, bestätigt auch der Innsbrucker Gletscherkundler Professor Gernot Patzelt.
Elf Gletscherleichen zählte die Gendarmerie seit 1990 im Montblanc-Gebiet (vgl. Karte oben) ? die Toten des Flugzeugabsturzes nicht mitgerechnet.
Gletscher sind Zeitmaschinen. Nicht nur Polizei und Hilfsdiensten macht ihr Rückzug Arbeit, auch Archäologen, Naturwissenschaftler, Historiker und Schatzsucher kommen auf Trab.
l Aus Knochen, Bekleidungsresten, einem Filzhut und einem Rosenkranz, gefunden am Kesch-Gletscher in Graubünden, rekonstruierte der Archäologe Jürg Rageth das Leben einer Südtirolerin, die um 1700 als Alm-Gastarbeiterin in der Schweiz tätig war.
l In Südtirol gab das Eis in den Fels gehauene Stufen frei, vermutlich angelegt von frühen Hirten, die ihre Herden über die Pässe trieben.
l Berichte, die indische Boeing habe Rohdiamanten für Schweizer Edelsteinschleifer an Bord gehabt, locken Christian Mollier zufolge jährlich mehrere Dutzend Glücksritter an den Bossons-Gletscher. Ob sie je etwas fanden, liegt im dunkeln: Für Schatzsucher kann Schweigen Gold bedeuten.
Nachahmer seien gewarnt: Am 26. Juli, einen Tag nach der Gletscherbegehung durch die FOCUS-Reporter, erschlug ein Eissturz des Bossons drei Menschen.
ENTDECKUNGEN BESONDERER ART:
1991-95, Bossons-Gletscher bei Chamonix: Leichen- und Wrackteile eines 1966 abgestürzten Passagierflugzeugs
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