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Vom Reisen

Unterwegs auf dem Mittelmeer von Patras nach Bari

August 2006








Vom Reisen, oder: die Sonne ist ständig in Bewegung

Jetzt stehen sie draussen. Die Tür wird vorsichtig zugeklinkt und viele bewegen sich beflügelt auf die Strasse hinaus. Musik ertönt durch die Gassen und ein Duft von Frühling hängt in der Luft. Der Frühling – die neue Jahreszeit. Ausreissen! Ja, genau das will ich: mein Stichwort. Vor mir die ganzen Strassen, Hügel und Musikanten. Wenn ich wieder da bin, kann ich ihnen aus der erlebten Ferne von kunstvoll verzierten Laternen erzählen, von den Marktleuten und Zugführern. Ob Ziele sinnvoll sind? Meistens verbinde ich diese zu direkt mit Erwartungen. Gleichzeitig höre ich die Träume im Hintergrund summen. Ist das Jugend? Soll ich zu jenem Ort pilgern, zu welchem mich nächtlich meine Träume tragen?

Die anderen stehen noch immer unter des Bäckers Terrasse. Die Provinz lebt; Menschen kommen hinzu, Gelächter ertönt und sprechende Hände gestikulieren in der Luft. Der Himmel sieht wie neu eingepinselt aus, als müssten gerade erstklassige Künstler am Werke sein. Eingefärbt in rote und gelbe Töne schimmert er dort und verabschiedet die golden leuchtende Kugel am Horizont. Nun die Sonne erscheint morgen früh pünktlich um sieben wieder, wie immer. Dann küssen die ersten Strahlen die Kirchturmspitze. Sie schaffen es, die ganze Erde zu beleuchten, einfach so, tanzend. Sie lassen sich nicht besitzen, stehen keinem allein zu, sind für alle und jeden. Vielleicht schmiegt sich die Sonnenkugel in den Nächten an den Mond heran. Ich stelle mir vor, wie dieses Spiel durch das klare, silberne Licht des Mondes und der Sterne uns staunen macht ... Ich mag mich an keinen einzigen Tag erinnern, an dem die Sonne nicht geschienen hätte. Sie teilt immer.

Mittlerweile ist es tiefe Nacht geworden. Das Volk trifft sich auf den Gassen und in den Beizen. Die Luft riecht so gut, dass ich sie lustvoll einatme und tief aus meinem Innern einen Laut voll von erquickter Freude von mir gebe. Der Frühling ist da! Nur ihr sitzt noch immer unter des Bäckers Terrasse. Wollt ihr für immer dort verharren, muss ich mich denn zu euch setzen?

Sind jene glücklich dort? Haben sie denn keine Fahrkarten erhalten? Sie hätten doch Zeit genug gehabt, ihre Taschen gründlich zu durchsuchen, und freudig, dankbar diese in ihren Händen zu halten. Stattdessen stehen sie einfach da. Ob wohl das Ziel auf dem Ticket vermerkt ist, und eine Empfehlung als Reiseplan mitgegeben wurde?

Ich spüre meine Beine; wie lange stehe ich nun schon da? Ob jene mich entdeckt haben? Ihr Billett, warum gebrauchen sie es denn nicht? Schon werde ich zum Spielball meiner kreisenden Gedanken. Ich bin immer noch da; seit wann überhaupt? Wie viele Reisende sind schon an mir vorbeigelaufen? Nein, niemand hatte einen Plan dabei. Vögel habe ich pfeifen hören und meine ganze Aufmerksamkeit dem Rauschen des Windes geschenkt. Die Sonne besucht mich; sie ist treu. Ob sie eine Freundin von Gott ist? Vielleicht promenieren sie gerade gemeinsam durch die Strassen und Alleen.

Ich stelle mir vor, wie beide liebevoll den Reisenden zu Hilfe eilen. Die Strahlen der Sonne sind überall und Gott auch. Kann sein, dass sie uns gewollt keinen Plan mitgegeben haben – aber dies in guter Absicht. Ich suche bei mir nach Ticket und Reisebeschreibung. Vergebens. Fast macht sich Entsetzen in mir breit; mein Körper glüht. Ein lauer Wind streift an mir vorbei und berührt mich. Möchte er mich führen? Gleichzeitig beginne ich warm und kalt zu haben. Der Wind, ist auch er mit Sonne, Mond und Gott befreundet?

Inne haltend, verwurzelt in einer Frühlingsnacht. Solche Nächte sind nicht immer nur warm. Ich suche nach Rat, wünsche mir Kontakt zu meiner inneren Weisheit und dem Herzen. Was nur hat mir der Wind flüsternd mitgeteilt? Dann schaue ich wieder zu den Leuten dort. Ob sie auf jemanden warten? Vom Flusse her ertönt Zigeunermusik. Diese Menschen dort sind auch immer unterwegs, nahezu rastlos, sie scheinen ihre Fahrkarten tüchtig zu gebrauchen. Warum wir wohl sesshaft geworden sind? Sind Zigeuner denn glücklicher?

Ich beginne nach und nach zu frösteln und ziehe meinen Pullover über. Als meine Augen sich wieder öffnen, erschrecke ich und bleibe, die Luft anhaltend, stehen. Sie haben mich bemerkt. Unsere Blicke treffen sich, tiefblau. Aber ich bin kein blinder Passagier, niemand ist das. Ob ich wohl einen Zug verpasst oder eine Verbindung übersehen habe?

Sind sie möglicherweise erst gerade hier angekommen? Als Reisender gönnt man sich ja immer wieder eine Pause. Das lässt einen feine, zarte Details erkennen. So kommt man zur Ruhe. Warum sie wohl genau hier hingekommen sind? Wer wohl hat den Leuten die nächste Station ins Ohr geflüstert?

Es ist Frühling, alles erwacht! Ich spüre mich wieder; meine Augen schweifen zur Ferne hin. Dort würde ich Sterne sehen! Das Reisebillett ist für alle gültig, also auch, um zu den satten Wiesen unter dem Sternenmeer zu gelangen. Ich verweile mittendrin, träumerisch, weit weg.

Dann steht die Gruppe Leute vor mir. Es fröstelt mich nicht mehr, sie scheinen zu wärmen. Es sind die Fremden. Und doch auch vertraut: lange genug sind sie mir ja gegenüber gestanden. Aber kenne ich sie denn?

Alles in Bewegung, die ganze Provinz auf Reise. Beobachte ich eigentlich den ganzen langen Abend Vagabundierende? Sie scheinen wie zu fliessen, begleitet von der Sonne und Gott. Und was ist mit mir, habe ich Fesseln an meinen Händen? Aber so gefesselt lässt sich nicht schwimmen; dann bekäme ich gar keine Luft mehr, wo diese doch so süss und gut riecht.

Die alt-neuen Reisenden stellen sich mir vor. Warum sich Leute unter Tausenden finden? Sie giessen mir Tee in eine Tasse. Es ist so warm, herzlich und fröhlich. Die Gruppe steht einfach da, und jetzt gehen wir gemeinsam. Die Nacht verbringen wir mit Fabulieren, Lachen, Musik und Geschichten. Ob das der Frühling ist?

Wenn Gott durch diese Gassen ginge, und das tut er bestimmt, so hat er mich behutsam in den nächsten Zug gesetzt. Wo ich doch keinen Fahrplan besitze: wann und wo steige ich dann wieder aus? Aber jetzt bin ich unterwegs. Es wird die Sonne scheinen, und ihre Strahlen fliessen hell und wärmend in alle Ritzen.

s.n.

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