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Krokofan


Premium (Pro), Essen

Weihnachtsgeschichte

Er saß im IC-Zug von Köln nach München, lehnte sich in das Polster zurück und blickte nachdenklich auf die an ihm vorbeiziehende Landschaft. Er kam von Amsterdam, war in Köln umgestiegen und wollte nun kreuz und quer durch Deutschland fahren, so wie er bereits Amerika besichtigt hatte, Afrika und Südamerika, Rußland und Asien, und je mehr er gesehen hatte, umso stiller war er geworden. Mit Tausenden von Menschen hatte er gesprochen, mit forschenden Augen war er durch die Länder gegangen, hatte in Kathedralen und kleinen Dorfkirchen gesessen, hatte eine Menge Zeitungen gelesen, das Fernsehen in vielen Ländern betrachtet, sogar in Peepshows war er gewesen, in Porno-Bars und hatte bei den Dealern gestanden, die Heroin und Kokain verkauften Parlamentsdebatten hatte er miterlebt, Demonstrationen und örtliche Kriege, saß in den Elendsvierteln südamerikanischer Städte in den Hütten aus Pappe und flachgeklopften Bezintonnen und hatte auf Cocktailempfängen der Reichen mit einem Champagnerglas in der Hand voll stummer Verwunderung den großen Bogen eines Menschenlebens in sich aufgenommen.
In Rom hatte er eine Papstmesse miterlebt und war geblendet und erschrocken von dem Prunk der Gewänder und dem theatralischen Aufzug, den man Gottesdienst nannte. Damals, hatte er gedacht, ritt ich in einem einfachen Gewand und auf einem Esel in Jerusalem ein, und sie schwenkten Palmwedel, was ich gar nicht wollte. Und überall sehe ich meine Mutter, auf Holz geschnitzt, in Stein gehauen oder mit Farben gemalt, eine schöne glückliche Frau voll Güte und Verständnis irdischer Sorge. Aber sie war eine arme Frau, besaß nur das, was sie auf dem Leib trug, und als sie ihr Kind auf einer Strohschütte gebar, umschwebten sie nicht singende Engelscharen, sondern der Wind pfiff durch die Bretterwände des verfallenen Stalles. Und als sie ihr Kind in Stoffetzen wickelte, hatte sie wie jede Mutter gedacht: Er soll, es einmal besser haben als wir, der kleine Wurm, groß und stark soll er werden und ein guter Zimmermann wie sein Ziehvater, geachtet und geliebt von allen, die ihn kennen, ein Leben der Freude und Erfüllung.
Erfüllung ... das war ein Kreuz, das war das Leiden dieser ganzen Welt in einem einzigen Körper, das war der Tod im Verzeihen aller Sünden. „Mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ habe ich damals geschrien, denn ich fühlte wie ein Mensch. Heute müßte ich schreien: „Mein Gott, was haben die Menschen aus mir gemacht?!“ Ich möchte die Tempel wieder säubern wie damals, aber ich kann es nicht. Die Menschen haben mich überrollt und singen dazu: „Jesus, gehe voran.“
Er schrak hoch, als in Koblenz ein Mann zustieg und den Platz ihm gegenüber belegte. Er war gut gekleidet, hatte als Gepäck nur eine Aktentasche bei sich, legte sie in die Gepäckablage und ließ sich dann auf das Polster fallen. „Ein Scheißwetter, was?“ sagte er leutselig und reckte sich. „Alles ist durcheinander.“ „Die Sonne scheint doch,“ sagte der Weltgereiste. „Das
ist doch schön. Die Sonne ...“ „Schön nennen Sie das?“ Der Mann schüttelte den Kopf “Morgen ist Heiligabend, Weihnachten. Und was haben wir? Frühlingswetter. Alles grün! Früher, da wußte man: Weihnachten liegt Schnee. Da ist alles weiß. Da sieht man durchs Fenster und freut sich, daß man im Warmen sitzt.“ „Ich glaube im Stall von Bethlehem wäre man glücklicher gewesen, wenn statt der Kälte eine warme Sonne geschienen hätte.“ Der Mann sah seinen Mitreisenden erstaunt an und winkte dann ab. „Weiß man das so genau?“ fragte er. „Seit wann schneit‘s in Palästina?“ „Es steht in der Heiligen Schrift.“ „0 Gott, hören Sie mir damit auf! Was steht da nicht alles drin, und wie sieht die Wirklichkeit aus?!“ „Sie lesen keine Bibel?“ „Nein! Und aus der Kirche bin ich auch ausgetreten.“ Der Mann räkelte sich und streckte die Beine vor. Fast berührten sich ihre Füße. „Ich sehe an ihrem Blick ... Sie fragen: Warum? Das will ich Ihnen sagen. Ich glaube an Gott, aber an einen anderen, als man ihn uns von den Kanzeln predigt. Wo war der gütige Vater, als die Kriege Hunderte von Millionen Toten forderten? Wo war er bei der Inquisition, bei den Hexenverbrennungen und bei den Pest- und Cholera-Jahren? Warum läßt er zu, daß Hunderttausende bei Überschwemmungen ertrinken oder auf ausgedörrtem Land verhungern?.Immer die Ärmsten, und Frauen und Kinder! Und wo man hinblickt: Kriege, Haß, Terror, Lügen, Elend und Zerstörung, Korruption und Skrupellosigkeit‘ Die Schwachen werden
getreten, und die Starken schwingen die Fäuste. Hat Gott diese Welt so gewollt?“ „Nein.“ „Und warum ändert er es nicht ... dieser Allmächtige, wie er genannt wird?“ „Er glaubt immer noch an das Gute im Menschen.“ „Ich bitte Sie, so dumm kann doch kein Gott sein.“ Der Mann lächelte mokant. Seine Füße berührten jetzt den Schuh seines Gegenübers, eine starke Wärme durchrann ihn, aber er schob es auf seine innere Erregung. „Sagen wir es so: Die Menschheit ist Gott entglitten. Und was Christus einmal gepredigt hat — wer kümmert sich noch darum? Die Kirchen werden immer leerer ...“ ‚.Das habe ich gesehen. Aber was soll Gott tun? Eine neue Sintflut?“ „Nicht nötig. Früher oder später bringen wir uns alle gegenseitig um. Ein Griff zum roten Telefon, ein Knopfdruck, und der Atomkrieg fegt die Erde leer. Wenn Jesus heute wieder auf die Erde käme ... er würde sich wundern.“ „Das tut er. Was ist aus seinem Opfer für die Menschheit geworden ...“ Der Mann sah aus dem Fenster, erhob sich und griff nach seiner Aktentasche. „Gleich kommt Frankfurt, da muß ich raus“, sagte er. „War‘n interessantes Gespräch. Übrigens mein Name ist Baumann.“ „Joshua.“ „Das klingt fremdländisch.“ „Es ist althebräisch.“ „Sind Sie Jude‘>“ „Wie man‘s nimmt. Ich bin in Judäa geboren.“ „Dann sind Sie — Verzeihung — auch ein armes Schwein. Dieser dauernde Knatsch in Palästina.“ „Ja. Ich bin ein armes Schwein.“ sagte der Weitgereiste. „Ich war es immer. Aber was soll Gott tun?“ „Das fragen Sie mich? Früher hätte ich gesagt: Vertraut auf Gott, und das Himmelreich ist euer! — Aber jetzt? Mit dem Ozonloch fängt es an ... wo hört es auf?“ „Früher?“ Der Reisende sah den Mann mit der Aktentasche nachdenklich an. „Was sind Sie von Beruf?“ „Jetzt bin ich Frühpensionist. Was ich einmal war? Ich war Pfarrer, Herr Joshua…..Bis ich nicht mehr glauben konnte, was ich predigte.“ Der Zug fuhr in die riesige Bahnhofshalle von Frankfurt ein. „Gute Weiterfahrt.“ Der Mann verließ das Abteil, aber an der Tür drehte er sich noch einmal um, für eine Frage, die ihm plötzlich in den Sinn kam. Mit weiten Augen blickte er auf den Sitz am Fenster und preßte dann die Aktentasche an seine Brust. Der Platz war leer. Mit wem hatte er gesprochen, hatte er gegen die Wand geredet? Aber die Wand hatte Antwort gegeben, und sein Schuh hatte den Schuh des Anderen berührt ... “Das gibt es doch nicht!“ sagte er laut, rannte den Gang entlang und verließ fluchtartig den Zug. Er stürzte in die nächstgelegene Kirche, erkannte am Kreuz das Antlitz seines Mitreisenden, fiel auf die Knie, betete in Demut und bat um Verzeihung
Joshua aber, nun, da der Tag seiner Geburt sich nahte, durchstreifte wie ein Wandersmann das Land. Er sah die im Lichterglanz strahlenden Städte und freute sich, aber er sah auch sich selbst als Marzipanfigur und das Bildnis seiner Mutter als Backform, wie er es schon in Fatima gesehen hatte. Dort hatte er eine solche Backform gekauft und vor den Augen der Nonnen mit einem Faustschlag zertrümmert. Jetzt war er allein in einer stillen Landschaft, wanderte einsam über Wald- und Feldwege und sah in der Abenddämmerung das Licht eines Gehöftes. Mißtrauisch öffnete sich auf sein Klopfen hin die Tür einen Spalt, und ein Mann in einem dunklen Anzug musterte ihn abwehrend. „Sie wollen?“ frage er. „Kann ich diese Nacht bei Ihnen unterkommen?“ frage Joshua. „Heute? Am Heiligen Abend?“ Der Mann betrachtete ihn von oben bis unten. Wie ein Landstreicher sieht er nicht aus, dachte der Bauer. Was soll man ihm antworten? „Warum wandern Sie um diese Zeit noch herum?“ „Ich sehe mir die Welt an. Es gibt so viel zu sehen auf dieser Welt.“ „Kommen Sie rein.“ Der Bauer stieß die Tür auf, machte einen Schritt zur Seite und ließ den Fremden eintreten. Gleichzeitig griff er nach hinten und holte einen starken Knüppel von einem Wandhaken. Man kann nie wissen man sieht nur vor ein Gesicht, nicht dahinter. Irgendwie kommt er mir bekannt vor. Habe ich ihn schon einmal gesehen? dachte er. Vielleicht auf dem Wochenmarkt? — Im Zimmer saß die Bäuerin, auch sie in einem Festkleid. Hinter ihr stand der geschmückte Weihnachtsbaum, und davor lagen eingepackt die Geschenke, es roch nach Zimtgebäck und Lebkuchen, Vanillestrudel und Äpfel im Rohr. Vor einem Kruzifix flackerte eine Kerze. „Der Herr will bei uns übernachten“, sagte der Bauer, „Er wandert gern. Aber jetzt ist er müde, nicht wahr?“ „Ja. Ich bin müde.“ Joshua setzte sich an den Tisch. Er war festlich gedeckt mit buntem Geschirr und kleinen Tannenzweigen. Sein Blick fiel auf das Kruzifix, und er senkte den Kopf. „Wo sind Sie zu Hause?“ frage die Bäuerin, erhob sich und holte eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank. „Wo ist Ihre Heimat?“ „Meine Heimat ist
überall.“ Joshua nickte der Bäuerin dankbar zu, trank einen Schluck Bier und stellte seinen Rucksack auf den Boden. “Das
heißt ... Sie haben keine Heimat?“ Der Bauer räusperte sich. “Ich befürchte es.“ Sie hoben alle die Köpfe von draußen klang es wie das Tuckern eines Motors, dann hörte man ein scharfes, knirschendes Bremsen. Gleich darauf hämmerte es an der Haustür. „Aufmachen!“ rief eine aufgeregte Stimme. “Bitte machen Sie auf! Ein Notfall!“ Der Bauer ging hinaus, öffnete, und an ihm vorbei stürzte ein Mann in das Haus, mit aufgerissenem Hemd, die
Haare schweißnaß und einem Zittern am Körper. „Verzeihung ...“
Keuchte er. „Sie sind unsere letzte Rettung! Meine Frau ... bis zum nächsten Ort kommen wir nicht mehr ... wir haben nicht damit gerechnet, nicht heute ... die Wehen haben eingesetzt alle drei Minuten schon ... sie bekommt ein Kind. Mein Gott, was soll ich tun? Können Sie mir helfen?“ „Ich rufe den Arzt!“ sagte der Bauer. „In einer Stunde kann er hier sein“. Zu spät! Eine halbe Stunde ... da kann alles vorbei sein. Helfen Sie uns doch!“ „Ich habe neun Kinder geboren.“ Die Bäuerin griff an einen Haken und band sich eine Schürze um. „Sind jetzt alle aus dem Haus, groß und gesund sind sie. Das Zehnte bringen wir auch noch auf die Welt. Erst muß heißes Wasser her ... und Handtücher, viele Handtücher.“ Der Bauer und Joshua rannten hinaus. Draußen stand ein großes, komfortables Wohnmobil, ein kleines Haus auf Rädern, und als sie näher kamen, hörten sie schon das Keuchen und Wimmern der Gebärenden.
Meine Mutter saß auf dem harten Rücken eines Esels, dachte Joshua. Und mein Ziehvater ging neben ihr her zu Fuß ... doch die Schmerzen der Mütter sind immer die gleichen. Sie hoben die junge Frau aus dem schmalen Bett und trugen sie ins Haus. Sie schluchzte, umklammerte Joshuas Arm und biß in ein Taschentuch, als an der Schwelle eine neue Wehe ihren Körper erschütterte. In der Wohnstube hatte die Bäuerin den festlich gedeckten Tisch freigemacht und die Tischplatte mit Handtüchern ganz ausgelegt. In der Küche dampfte ein großer Topf mit Wasser. „Auf den Tisch!“ rief sie. „Eine harte Unterlage ist das beste. Alois, einen Eimer! Und hol die Schere und leg sie ins kochende Wasser.“ Sie beugte sich über die junge Frau und streichelte ihr schweißüberzogenes Gesicht. „Das haben wir alle hinter uns“, sagte sie besänftigend. „Es ist bald vorbei. Nur Mut.“ Die junge Frau nickte und starrte hinüber zu ihrem Mann und zu Joshua. Er trat an sie heran, beugte sich über sie und erschrak über die Vertrautheit ihres Gesichtes. „Sind ... sind Sie der Arzt?“ fragte sie und biß wieder in das Taschentuch. Eine neue Schmerzwelle überflutete sie. „Ich bin alles“, sagte er. „Nur man weiß es nicht mehr ...“ Er streckte beide Hände aus, ließ sie über ihr Gesicht und ihren hohen Leib gleiten, und plötzlich wurde aus den Schmerzen eine den ganzen Körper erfassende Wärme, so wohlig, daß man sich darin räkeln konnte wie unter einer Sonne. „Danke“, sagte sie leise und schloß die Augen. „Danke ... ich fühle mich ganz leicht ...“ „Jetzt stirbt sie“, stammelte der junge Mann und schlug die Hände vor sein Gesicht. „Sie stirbt Mein Gott, laß es nicht zu! Laß es nicht zu!“
Es war ein Mädchen, das auf die Welt kam, ein kleines rosiges Menschenwesen mit schwarzen Haaren, und es schrie kräftig und ballte die Fäustchen, als die Bäuerin es wusch und dann in ein dickes Handtuch wickelte. „Es wird Claudia heißen.“ Die Junge Frau drehte den Kopf zu ihrem Mann, der bleich und mit Tränen in den Augen über ihr schweißgetränktes Haar streichelte. Sie lächelte, wie alle Mütter hinterher lächeln, und dann kam die große Erschöpfung, und sie schlief ein.
Ich wurde auf Stroh geboren, dachte Joshua. Und hier ist es ein Tisch. Er sah die junge Frau lange an und begann sie zu erkennen. In einer anderen Zeit, in einer veränderten Welt, unter Menschen, die nach den Sternen griffen und um so mehr die Unendlichkeit erkannten. Mutter, sagte er in sich hinein. Mutter, ich verstehe dich. Ich bin ein unbequemer Gast auf dieser Erde. Ich war traurig über das, was ich gesehen habe. Ich zweifelte an dieser Welt. Aber es gibt Hoffnung, Mutter. Jedes Kind, dem neues Leben gegeben wurde, ist meine Hoffnung. Danke, Mutter. Er ging zu der Bäuerin, streckte die Arme aus und sagte: „Gib mir das Kind bitte ...“ „Haben Sie auch Kinder?“ Ihr seid alle meine Kinder, dachte er. Wie konnte ich das bloß vergessen? Er nahm das kleine Bündel Mensch auf seine Arme, drückte es an sich, küßte ihm die Stirn und setzte sich neben den geschmückten Weihnachtsbaum auf einen Schemel. Der Bauer zündete die Kerzen an und hockte sich stumm neben ihn auf die Ofenbank. Joshua wiegte das Kind in seinen Armen und sah hinüber zu dem Kreuz mit seinem gemarterten Körper. Die Kerze davor flackerte und ließ ihn im Spiel von Licht und Schatten wie lebend
erscheinen. „Ich vergebe euch“, sagte Joshua leise. „Und ich bin bei euch alle Tage, auch wenn ihr es nicht merkt. Ich weiß es jetzt: Es war nichts umsonst. Ihr braucht mich mehr als je zuvor, auch wenn ihr an mir zweifelt.“
Es war ein stiller, glücklicher Abend — und der Braten, eine Ente, schmeckte köstlich. Er trank noch eine Flasche Bier, breitete dann die Arme aus und rief: „Meine Kinder, warum so still? Laßt uns fröhlich sein! Ein Mensch
wurde geboren! Ich weiß, wie glücklich auch meine Eltern waren!“ Da stellte der Bauer das Radio an, suchte nach flotter Musik, und Joshua tanzte mit der Bäuerin, während der junge Mann den Takt dazu klatschte, und alle waren lustig, ganz anders als sonst am Heiligen Abend. Und nebenan, im Arm der Mutter, schlief das Kind und lächelte in sein Leben hinein.

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