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Vor 60 Jahren in meiner Heimatstadt Leipzig

Vor 60 Jahren in meiner Heimatstadt Leipzig

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Premium (World), Berlin

Vor 60 Jahren in meiner Heimatstadt Leipzig

Fast genau 7 Jahre bevor ich auf die Welt kam, am 17. Juni 1953, erlebte meine Mutter in Leipzig den Volksaufstand hautnah mit.
Sie war mit der Straßenbahn im Süden, Nähe Dimitroffmuseum (7) unterwegs und wollte in den Nordwesten der Stadt.
Die Bahn hielt plötzlich, der Fahrer verkündete "Wir streiken!" – und schon war meine Mutter mittendrin.

Sie nahm vom Wilhelm-Leuschner-Platz aus zu Fuß den kürzesten Weg durchs Stadtzentrum.
Sie sah die Menschenmassen auf dem Karl-Marx-Platz (2; hier vor der später gesprengten Uni-Fassade) und den Rauch auf dem Marktplatz (1).

Die Menschen waren auf dem Weg u.a. zum Untersuchungsgefängnis in der Beethovenstraße (3), um Verhaftete vom Vortag zu befreien;
die Bezirksverwaltungen der SED, der FDJ und des Gewerkschaftsbundes wurden sogar gestürmt und die Funktionäre misshandelt.
Bilder von Stalin und Ulbricht flogen zusammen mit Akten und Möbelstücken aus den Fenstern, ehe alles in Flammen aufging.

Vor dem Hauptbahnhof (6) formierte sich (wie auch 1989 zu den Montagsdemos) ein Demonstrantenzug,
der zum Karl-Marx-Platz zog und zur Solidarität mit Berlin und den anderen Städten des Volksaufstands aufrief.

Die in Leipzig-Gohlis stationierten Panzer der Sowjetarmee schlugen den Aufstand am Nachmittag mit Waffengewalt nieder.
Sie eroberten die neuralgischen Punkte auf dem Marktplatz (4, 5), auf dem Karl-Marx-Platz und vor dem Dimitroffmuseum (7).
Die Besatzungstruppen agierten gemeinsam mit der Volkspolizei, die aber völlig ungeschützt Prügel bezog.

Meine Mutter (damals 28 Jahre alt) kam heil, aber selbstverständlich von den Ereignissen aufgewühlt nach Hause.

Im Industrieballungsraum Leipzig-Halle waren mehr Demonstranten auf der Straße als in der Hauptstadt; daher gab es hier auch mehr Opfer.
Anders als in dem Ausschnitt steht, wurden in Leipzig nicht nur 3, sondern 10 Demonstranten standrechtlich erschossen (8 in Berlin, 1 in Jena).
Durch Schüsse in die Menge oder auf "Angreifer" starben in der DDR 34 Menschen, zeitnah 11 weitere durch Todesurteile und in der Haft.
20 weitere Todesfälle blieben ungeklärt. Auf Seiten der Volkspolizei fielen 5 Genossen, keiner von den Sowjetsoldaten.

1954 wurden in Schauprozessen noch 2 Demonstranten zum Tode (Enthauptung) und über 100 zu 5 Jahren bis lebenslänglich verurteilt.
Ganz nach dem Vorbild des Nazi-Volksgerichtshof-Richters Freisler handelten die Richter zugleich als Ankläger; Verteidiger gab es nicht.
Für die Justizwillkür und die harten Urteile war die Justizministerin und Vorsitzende Richterin der DDR, Hilde Benjamin, verantwortlich.
Erst nach der Sicherstellung der Stasi-Unterlagen 1989/90 erfuhren die Angehörigen der Toten, dass diese hingerichtet worden waren.

Die Regierung sah in den Ereignissen vom 17. Juni eine von den westlichen Medien angezettelte Konterrevolution.
Die SED-Zeitung "Neues Deutschland" vom 16. Juni hatte aber selbst im Leitartikel von Chefredakteur Rudolf Herrnstadt die Arbeiter ermutigt:
"Es geht darum, eine DDR" (= wiedervereinigtes Deutschland) "zu schaffen, die für ihren Wohlstand, ihre soziale Gerechtigkeit, ihre
Rechtssicherheit, ihre zutiefst nationalen Wesenszüge und ihre freiheitliche Atmosphäre die Zustimmung aller ehrlichen Deutschen findet."
Dies nahmen die Menschen nur allzugerne wörtlich und fingen umgehend an, diesen Prozess in die Tat umzusetzen.

Die simple Wahrheit:
Die DDR-Bürger waren frustriert gewesen, dass sie dank ihrer Loyalität zu der neuen antifaschistisch-sozialistischen
Gesellschaftsordnung offenbar allein die Zeche des Zweiten Weltkriegs bezahlen durften.
Während in der Bundesrepublik ein Marshallplan die Grundlagen für das "Wirtschaftswunder" legte,
leistete die DDR sämtliche Reparationen an die Sowjetunion; teilweise wurden die Produktionsanlagen einfach nur
von der Sowjetarmee demontiert und auf dem Transport nach Osten neben den Bahndamm gekippt.
Die Bevölkerung ernährte sich noch immer auf Lebensmittelmarken, die Kaufhäuser waren leer oder die Waren überteuert.
Und die Menschen hatten es satt, schon wieder in einer Diktatur leben zu müssen, und forderten u.a. auch freie Wahlen.
Unter diesen Bedingungen setzte die obendrein durch Wahlfälschung etablierte Regierung mehrfach Arbeitsnormerhöhungen durch.
Erst kurz vor dem Aufstand nahm sie einige Entscheidungen zurück und schaffte die Lebensmittelrationierung ab – zu spät.

Der Aufstand scheiterte, weil er spontan aus wilden Streiks heraus aufgeflammt und weitgehend unorganisiert war.
Und weil die Forderung des Abzugs der sowjetischen Besatzungsarmee unrealistisch gegenüber dem Viermächteabkommen war.

Von 1954 bis 1990 war der 17. Juni als "Tag der deutschen Einheit" der Nationalfeiertag der Bundesrepublik Deutschland.
Diese Provokation der BRD gegen die DDR kam aber bei den DDR-Bürgern nicht gut an: "Wir haben geblutet, und ihr da drübern feiert arbeitsfrei!"

Bildquellen:
Stadtgeschichtliches Museum (Lothar Hammer: 1),
Bürgerkomitee Leipzig e.V. für die Auflösung der ehemaligen Staatssicherheit (2–6),
Deutsches Bundesarchiv (7),
Bundeszentrale für politische Bildung (Zeitungsausschnitt),
Bundesstiftung zur Aufarbeitung, Haus der Geschichte Bonn (Plakat)

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