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Der Bruder des Künstlers aus letzter Woche

Der Bruder des Künstlers aus letzter Woche

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Klaus Tesching


Premium (World), hinter den sieben Bergen

Der Bruder des Künstlers aus letzter Woche


Es war einmal ein Künstler namens Weißmann, der Bruder von Karl Schwarz. Während Karl in der Kunstwelt für seine imposanten, tiefschwarzen Wände gefeiert wurde, schien Weißmann immer im Schatten seines Bruders zu stehen. Doch Weißmann hatte seine eigene, ganz spezielle Obsession: die Farbe Weiß.

In einem verzweifelten Versuch, seinem berühmten Bruder nachzueifern, beschloss Weißmann, sein eigenes monumentales Lebenswerk zu schaffen. Sein Atelier war voller leerer Leinwände und Farbtöpfe, die nie benutzt wurden. Die Kunstwelt, stets auf der Suche nach dem nächsten großen Ding, nahm von seinem Projekt kaum Notiz.

Am Tag der Enthüllung seines "Meisterwerks" stand Weißmann, in schneeweiß gekleidet, alleine in seiner Galerie. Keine Kritiker, keine Enthusiasten, nur eine Handvoll neugieriger Passanten. Mit einer dramatischen Geste zog Weißmann das Tuch von seinem Werk. Vor ihnen stand... nichts. Eine riesige, blendend weiße Wand. So weiß, dass sie schmerzte, wenn man zu lange hinsah.

Ein älterer Herr in der Ecke, der zufällig vorbei geschlendert war, schüttelte den Kopf und murmelte: "Ich verstehe es einfach nicht." Ein kleines Mädchen fragte ihren Vater: "Papa, warum hat der Mann eine Wand nicht angemalt?" Der Vater zuckte mit den Schultern und antwortete: "Vielleicht hat er einfach keine Farbe mehr gehabt."

Weißmann, mit schmerzhafter Hoffnung in seinen Augen, beobachtete die Reaktionen. Doch es gab kein kollektives Keuchen, keine tiefgründigen Murmeln. Stattdessen nur eine unangenehme Stille, unterbrochen von gelegentlichem Husten.

In den folgenden Tagen wurden die Kritiken veröffentlicht. Eine Zeitung titelte: "Weiß auf Weiß: Ein Meisterwerk der Bedeutungslosigkeit." Eine andere schrieb: "Weißmanns Leere: Ein verzweifelter Versuch, Bedeutung in Nichts zu finden." Und so blieb Weißmann stets der ewige Schatten seines Bruders, ein Mann, der versuchte, das Nichts zu malen und doch nur die Leere fand.

Während Karl Schwarz als visionärer Künstler gefeiert wurde, der die tiefgründige Leere der menschlichen Existenz einfing, blieb Weißmann der erfolglose Bruder, dessen weiße Wand niemals die gleiche Bewunderung erfuhr. Am Ende blieb Weißmanns Werk genau das, was es immer war: ein leeres Versprechen auf Bedeutung in einem Meer der Farblosigkeit.

Schönen, regenfreien Freitag

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