… und eines Abends
... stand sie nach langen Jahren mühsamer Wanderung wieder vor ihrem Haus. Sie schaute hinauf zum Fenster, wo einst das Kinderzimmer lag, und Tränen standen in den müden Augen.
Aber nein, so fängt ein Märchen nicht an. Es ist auch gar nicht mein Märchen, das ich erzählen will, sondern das mir liebste und gleichzeitig traurigste Märchen, das ich kenne. Es stand in einem kleinen, dünnen Buch, aus dem mir meine Mutter manchmal vorlas … und die Geschichte war etwa so:
Der weite Weg
Es war einmal ein junges Paar, das sich sehnlich ein Kind wünschte. Übers Jahr gebar die Frau ein reizendes Töchterlein, das die Eltern innig liebten. Vor Freude über die Geburt der Kleinen schenkte der Mann seiner Frau einen kostbaren Ring mit einer Perle, sanftrosa wie die Blüten des Pfirsichbaums im Vorgarten, einem Diamanten, der glänzte wie das Licht der Sonne auf dem spiegelnden See, und einem Rubin, der so feurig wie edler Wein war.
Das Glück schien vollkommen, doch mit der Zeit fühlte sich der Mann vernachlässigt, und als seine Frau eines Tages wieder nur Augen für das Kind hatte, rief er erbost: „Ich wünschte, der Adler dort oben würde das Kind holen und es bis ans Ende der Welt tragen!!“
Wie groß war das Entsetzen, als der Adler tatsächlich herabstürzte, das Kind ergriff und es in Windeseile forttrug.
Die Frau wollte sich gar nicht trösten lassen, und schließlich machte sie sich auf den Weg, um ihr Kind zu suchen.
Sie wanderte viele Wochen und Monate, doch niemand wusste etwas über den Verbleib des Mädchens. Aus dem schönen Gesicht der Frau war das Lächeln gewichen, die ungeweinten Tränen gaben den Augen eine sonderbare Mattigkeit.
Eines Tages traf die Suchende einen Mann, der eine blinde Tochter hatte. Nur wenn diese die einzige Perle von sanftem Rosa wie Pfirsichblüten, die es auf der ganzen Welt gab, an die Augen halten würde, könnte sie geheilt werden. Die Reisende erkannte, dass auch Andere ein schweres Schicksal zu tragen haben und schenkte dem Mädchen die Perle aus ihrem Ring. Sie bat nur das Mädchen, nach der Heilung für sie zu beten und zog weiter.
Nach langer Reise kam sie schließlich vor ein Königsschloss, wo sie sich auf einer Bank ausruhte. Bald setzte sich ein Jüngling zu ihr, der unbeschreiblich traurig aussah. Da vergaß die Frau für eine Weile ihr eigenes Leid und fragte nach der Ursache des Kummers. Der junge Mann war unsterblich verliebt in die schöne Königstochter, doch der alte König wollte sie nur mit dem vermählen, der den glänzendsten Diamanten der Welt zum Geschenk machen könnte.
Voller Mitleid schenkte die Frau dem Liebenden den Diamanten aus ihrem Ring, damit wenigstens er glücklich werden könnte. Zum Dank bat sie um ein Gebet und machte sich weiter auf die Suche nach ihrem verlorenen Kind.
Die Frau war immer noch schön, weil sie nie die Hoffnung aufgab, und wenn sie auch von mildtätigen Menschen etwas zu essen und Kleider bekam, so konnte ihr doch, wo sie auch fragte, niemand etwas über das Kind und den Vogel sagen.
Schon fast am Ende der Welt angekommen, hörte die Frau eines Abends am Waldrand ein verzweifeltes Schluchzen. Angerührt beugte sie sich zu dem Mann. Als er ihr sein Gesicht zuwandte, glaubte sie, alles Leid der Welt in seinen Augen zu sehen. „Warum weinst du so?“, fragte die Frau, und der Geplagte erzählte, dass er dem Teufel seine Seele um den Preis eines glutroten Rubins verkauft hätte. „Rette deine Seele mit dem Letzten, das ich besitze, aber bete für mich!“, sprach die Frau und setzte ihren Weg fort.
Als die Sonne wieder aufging, stand die Frau am Ende der Welt, wo auf einem goldenen Berg drei riesige Vögel saßen. Sie unterhielten sich darüber, dass der Vogel Pfeil das Mädchen zurück nach Hause getragen hätte, weil der Vater vor Gram über den Verlust von Frau und Tochter gestorben sei. Da weinte die Frau bittere Tränen. Müde machte sie sich auf den Heimweg. An einem stillen Waldsee erblickte sie ihr Spiegelbild. Ihr Haar war schneeweiß und das Gesicht faltig geworden. Den steinlosen Ring warf sie in das Wasser, damit niemand sie daran erkennen konnte.
Der beschwerliche Weg führte an einer prachtvollen Kirche vorbei. Als die Frau danach fragte, sagte man ihr, ein reicher Kaufmann hätte sie vom Rest seines Vermögens bauen lassen. Jeden Tag ginge er dort zum Gebet für eine Frau, die ihr Kind sucht. Später erreichte die Frau wieder das Königsschloss. Dort fand ein großes Fest zu Ehren der Geburt des Prinzen statt. Alle waren fröhlich und feierten. Doch der junge König hatte auch angeordnet, dass an diesem Tag für eine Frau gebetet werden sollte, die auf der Suche nach ihrem verlorenen Kind war.
Schließlich langte die Frau an der Hütte des Mannes an, der mit seiner Tochter auf der Bank saß und in den Sonnenuntergang schaute. „Wie glücklich wäre ich, wenn ich wüsste, ob die Frau ihr Kind wiedergefunden hat“,
hörte sie das Mädchen sagen. Da wusste die Frau, dass ihre Geschenke Segen gebracht hatten, und Dankbarkeit erfüllte ihr Herz.
Als die Füße sie kaum noch tragen konnten, stand die Frau endlich wieder vor ihrem Haus. Ein zauberhaft schönes Mädchen trat auf sie zu und bat sie herein. Das Kind war ganz allein mit einer alten Magd und bot an, sich um die Frau zu kümmern, weil es keinen Vater und keine Mutter mehr hätte. Da erzählte die Frau von ihrer Reise ans Ende der Welt und von dem Ring, der so viel Segen gebracht hatte … und das Mädchen erkannte seine Mutter. Alle Sorgen und Kümmernisse waren daraufhin vergessen, und sie lebten glücklich bis an ihr Ende.
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Ich „klebe“ das Bild nun in das Foto-Geschichten-Buch
Wer sich dazu äußern möchte, kann das gerne hier (oder auch dort unter dem Bild) tun.
Vielen Dank für das Interesse!
:-)
Franz Schmied 15/01/2020 17:52
† Foto-Volker 28/12/2019 9:15
Märchen haben ja fast immer ein gutes Ende!Im wahren Leben ist das nicht immer der Fall.
VG volker
Ruth U. 27/12/2019 20:01
Das Bild finde ich wirklich klasse, aber solch langen Texte in der FC zu lesen, überfordert mich immer, ich muss mir doch noch jede Menge andere Bilder ansehen und dazu schreiben. :-))Klacky 27/12/2019 16:12
Die Welt kann ohne meine Weisheiten nicht sein, ich meine, kannse schon, aber dann isse verratzt:Wie es für Märchen so tüpisch ist, so ist es für dieses auch.
In jedem Märchen steckt ne Portion Dichtung und ne Portion Wahrheit, mal mehr von ersterer, mal mehr von letzterer, mal mehr von beiden.
So auch hier.
Da schenkt ein vor Liebe und Troie und Ergebenheit trunkener Mann seiner Ollen Klunkern, auf daß sich sich daran erfroie und auch in Notzeiten davon habe. Das ist nämlich der Hintergrund der ganzen Klunkerei.
So auch hier.
Und was machze davon und damit?
Ne Weltreise, sie kommt umme Welt und gibt hier und dort und an jedem Ort damit an und kommt rum und sieht was vonne Welt. Als sich zum Glück gegen Ende alles zum Guten wendet, wo es einklich schon war, da ist das wunderwunderschöne Töchterlein wieder da, und sie isses auch.
Friede, Froide, Eierkuchen.
Doch dem Mann kannste suchen, denn der ist wech. Den hat man vor lauter Storytelling ganz vergessen, er wurde im wahrsten Sinne des Wortes totgeschwiegen.
Ich sach ja, an jedem Märchen ist was Wahres dran.
So auch hier.
Jawollja.
So isses und nicht anders.
Und wenn sie nicht gestorben ist, so lebet sie noch hoite.
Er nicht.
Klacky 27/12/2019 14:54
Und schon wieder wurde mir eine Anmerkung gestohlen.Das nimmt lanxam überhand!
Mira Culix 27/12/2019 13:59
Eine ergreifende und moralisch hochwertige Geschichte. Und das warme Licht im Fenster leuchtet so heimelig.Gegen die Ausblühungen an der Wand sollte man allerdings vielleicht mal was machen.