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Der gefallene Engel

Münster-Nienberge, Katholische Pfarrkirche St. Sebastian. Nikon Coolpix P 7000. JPEG (Fine). Brennweite 10,7 mm (entsprechend dem Bildwinkel der Kleinbild-Brennweite 48 mm). ISO 455. 1/34 sec f/3,5 bei Matrix-Messung mit Programmautomatik. Belichtungskorrektur -0,3 LW. Bearbeitung: Corel PhotoImpact X3. Schwarzweißkonvertierung. Gradationserhöhung mit S-Kurve 180/190. Nachschärfen des auflösungsreduzierten Bildes 20/100.

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02.11.1981


Jurek Becker über Stefan Heym: Ahasver

Der Ewige Jude gibt keine Ruhe Der Romancier Stefan Heym ("Collin"), 68, der 1951 aus dem amerikanischen Exil nach Ost-Berlin übersiedelte, wurde 1978 aus dem DDR-Schriftstellerverband ausgeschlossen; seither erscheinen seine Bücher nur im Westen. - Der Schriftsteller Jurek Becker ("Nach der ersten Zukunft"), 44, lebt als DDR-Bürger in West-Berlin.

Als Stefan Heym seinen Roman "Collin" veröffentlicht hatte, wurde das Buch eine Zeitlang wenig beachtet, bis ein wunderbares Ereignis eintrat: Wegen Verstoßes gegen das Devisengesetz der DDR bescherte die dortige Justiz Heym ein Strafverfahren. Und hastdunichtgesehen wurde aus dem Flop ein Bestseller, denn da fackelt der Buchmarkt nicht lange. Es muß befürchtet werden, daß sich die DDR-Behörden nicht noch einmal zu einer so großzügigen Geste hinreißen lassen. Das wäre jammerschade, denn "Ahasver" hat weit eher den Sprung auf die Liste verdient. Es ist ein großartiges Buch geworden.

Der grundlegende Einfall des Autors ist es, so zu tun, als handle es sich bei seiner Geschichte um Tatsachenmaterial, als sei es ihm gelungen, an Dokumente heranzukommen, die endlich ein wenig Licht in gewisse Vorgänge bringen: wie es sich mit der Existenz des Teufels verhält, welcher Listen der Teufel sich bedient, um die Fronten zwischen Gut und Böse und Recht und Unrecht zu verwischen, in welcher Himmelsrichtung die Hölle zu vermuten ist, und dergleichen mehr. Wer an Tatsachen zweifelt, dem ist nicht zu helfen.

Andererseits erzählt der Autor natürlich eine Geschichte, das wird an keiner Stelle bestritten, Geschichten haben ihre eigene Logik, die nicht so simpel ist wie die tagtäglich geltende; Tatsachenmaterial aus der Welt der Literatur ist von besonderer, kaum präzise zu bezeichnender Qualität. Käme da einer mit den Meßlatten der Wissenschaft daher, mit historischen Beweisen oder Ausgrabungen oder den Maßstäben der Wahrscheinlichkeit, er würde sich nur lächerlich machen und als einer dastehen, der das Wesen der Sache nicht begriffen hat. Denn Geschichten können nicht richtig oder falsch sein, sondern immer nur gut oder schlecht.

Ahasver war ein jüdischer Schuster, Via Dolorosa, Jerusalem. Als Jesus, das Kreuz zum Berg Golgatha schleppend, ans Haus des Schusters kam und anhielt, um dort auszuruhen, jagte der ihn von seiner Tür. Jesus verfluchte ihn, Ahasver war verurteilt, bis zu des Heilands Wiederkehr umherzuirren auf der Erde, ruhelos. Aus dem Schuster Ahasver wurde der Ewige Jude, im Laufe der Jahrhunderte tauchte er immer wieder mal auf, in verschiedener Gestalt, in verschiedenen Teilen der Welt, und wurde von Zeugen zweifelsfrei erkannt. Soweit die Fakten. In Zeiten, da es weniger mißtrauisch als heute zuging, nutzten Betrüger den guten Glauben an die Legende, gaben sich für den Ewigen Juden aus und kassierten, wo man ihnen traute, barmherzige Gaben.

Der wirkliche Ahasver hat Stefan Heym als Vorlage für eine imposante Neuerfindung gedient. Sein Ahasver, ein gefallener Engel, weist den Heiland nicht einfach kleinlich ab, sondern er hat Gründe dafür. Er liebt ihn, er ist bereit, sich für ihn zu zerreißen, er fleht ihn an, sich zu wehren, das Kreuz hinzulegen, das Schwert zu nehmen und gegen seine Peiniger zu kämpfen. Ahasver ist nur nicht bereit, gegen seine Überzeugung nachzugeben, darum geht es. Er sagt: "Glaubst du, den da oben kümmert's, wenn sie dir die Nägel treiben werden durch deine Hände und Füße und dich stückweise absterben lassen am Kreuz? Er hat doch die Menschen gemacht, wie sie sind, und da willst du sie wandeln durch deinen armseligen Tod?"

Heyms Ahasver ist einer, der sich nicht fügen will, kein Dulder wie Jesus, sondern ein Umstürzler und Revolutionär. Er sagt zum Heiland: "Rabbi, deine Demut widert mich an." Darum verweigert er ihm die kleine Hilfe, als letztes Argument, oder, da alle Argumente nichts nützen, aus Enttäuschung. Dafür muß er ruhelos und ewig umherziehen, na und? In einer Welt, die so ist, wie sie ist, macht das nicht viel aus, er fühlt sich eh nirgends heimisch.

Seine Haltung ist störrisch und kompromißlos, wie die des Erzählers. Der nimmt, obwohl nie unhöflich, keine Rücksicht auf jene, die von Geschichten dieser Art besonders betroffen sein könnten. In Kreisen der Kirche mag das zu Irritationen und zu Widerspruch führen, nicht anders in Kreisen der Partei.

Ein zweiter Teil des Buches, man könnte sagen die Gegenwartshandlung, spielt zur Zeit der Reformation. Der Protestantismus hat sich in Teilen Europas durchgesetzt, eine ursprünglich rebellische, revolutionäre Bewegung ist etabliert und wandelt sich selbst zur Obrigkeit. Die Ideale, unter denen das Ganze angetreten ist, verkommen, die neuen Mächtigen unterdrücken und erpressen und verfolgen nicht schlechter als die alten. Aus der Entfernung verschwimmen die Unterschiede, so plump steht das natürlich nicht bei Heym.

Er erzählt eine geheimnisvolle Geschichte. Einem Paul von Eitzen, einem mittelmäßigen und schon in jungen Jahren autoritätsgläubigen Menschen aus Hamburg, gelingt im 16. Jahrhundert eine hübsche theologische Karriere, er bringt es zum Superintendenten in Schleswig. Daß es einen Paul von Eitzen tatsächlich gegeben hat und daß er dem beschriebenen ähnelt, kann der Leser zur Kenntnis nehmen, muß es aber nicht. Es ist ein Luxus, den sich der Autor leistet, auch ein Beispiel für das erwähnte Nebeneinander von Fakten und dreister Behauptung, das Kunststück eines Erfinders mit reichem Fundus.

Eitzen jedenfalls erfährt auf seinem Weg durchs Leben wunderbare Unterstützung. Ein gewisser Leuchtentrager, zufällige Reisebekanntschaft, frißt einen Narren an dem blassen jungen Mann und hilft ihm, wie es so wirkungsvoll kein anderer könnte: Er läßt ihn Prüfungen mit Glanz bestehen, er läßt ihm Predigten einfallen, er macht seine Lenden feurig, und immer ist er da, wenn man ihn braucht. Zeitig kommen wir, die Leser, zu dem Schluß, daß dieser Leuchtentrager kein Wesen ist wie du S.242 und ich. Schon wie er geht (er hinkt), schon wie er riecht, schon wie er kommt; meistens kommt er gar nicht, sondern ist einfach da. Der Teufel also, die einzige natürliche Erklärung.

Er sponsort Eitzen, er hievt den Dogmatiker in Amt und Würden, damit er die Lehre Luthers als furchtbarer Richter vertreten kann. So kriegt die Reformation ein Gesicht, daß ihr eigener Vater sie nicht wiedererkennt, der Teufel hat die Hand im Spiel gehabt. Schließlich vermittelt er Eitzen die Bekanntschaft mit dem Ewigen Juden. Ahasver, der Veränderer, und Eitzen geraten kapitellang aneinander. Wer so umstürzlerische Reden führt wie Ahasver, hat nach des Superintendenten Eitzen Meinung nicht das Recht zu leben; und Eitzen sitzt am langen Hebel, am kirchlichen, der auch der staatliche ist. Ahasver wird zum Tode verurteilt, aber er sitzt am noch längeren Hebel. Wir wissen, er kann nicht sterben bis zu Jesu Wiederkehr.

Vor etwa zwanzig Jahren schrieb Anna Seghers: "Kann der Teufel sich noch einmal in einer Dichtung unserer Epoche verselbständigen? Nicht entmachtet, entteufelt - so kommt er noch oft in der Kunst vor, als eine Art Fastnachtsspuk -, sondern im Vollbesitz seiner Macht, als echtes Symbol der Verneinung. Kann der Teufel noch einmal, nach Dostojewski und nach Thomas Mann, glaubhaft dargestellt werden, als Widerspiegelung eines grauenhaft verlockenden Zweifels, der heute Menschen verwirrt?"

Ja, kann darauf geantwortet werden, Heym hat dieses Buch geschrieben, nur hat er eine Bedingung der Seghersschen Forderung ins Gegenteil verkehrt. Sein Teufel, ständiger Begleiter Ahasvers, ist ganz und gar nicht das Symbol der Verneinung; er ist kein "Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft", und nicht der Geist, der stets verneint.

Leuchtentrager hat eine teuflischere Methode ersonnen: Er unterstützt die Menschen bei ihren vergeblichen Bemühungen. Er bejaht. Er hilft, die gottgeschaffene Ordnung zu erhalten, weil er sieht, daß er niemals eine miserablere Ordnung zustande bringen könnte. Er stellt sich in den Dienst der Autoritäten und verhindert gemeinsam mit ihnen Veränderung, in diesem Sinne ist er das Gegenteil von Ahasver. Heym hat der Gestalt, über die erkenntnistheoretische Komponente hinaus, eine neue Dimension gegeben: Der Teufel Leuchtentrager ist Teilnehmer an gesellschaftlichen Vorgängen, als Reaktionär.

Um die Existenz Ahasvers, und ungesagt auch somit um die Existenz des Teufels, wird im Jahre 1980 eine gelehrte Korrespondenz geführt, das ist die dritte Abteilung des Buches. Teilnehmer an dem Briefwechsel sind Prof. Dr. Dr. h.c. Siegfried Beifuß, Leiter des Instituts für wissenschaftlichen Atheismus der DDR (das nicht existiert), und ein Professor von der Hebrew University Jerusalem, S.243 der auf den bereits bekannten Namen Leuchtentrager hört. Beide haben über Ahasver gearbeitet. Der eine aber hat den Vorzug, Ahasver persönlich zu kennen, wir wissen welcher. Ahasver lebe heute noch als Schuster in Jerusalem, behauptet der, Via Dolorosa.

Der ursprüngliche Plan des Autors mit dem Briefwechsel mag gewesen sein, den ungelehrten Leser in die Materie einzuführen; denn wer ist schon ein Fachmann in puncto Ahasver-Legende? Das Resultat dieser didaktischen Absicht (sofern die Unterstellung zutrifft) ist ein Vergnügen, ein Gemisch aus wissenschaftlicher Erörterung, falscher Freundlichkeit und heymtückischem Witz. Experten tauschen ihre Ansichten aus, ziehen Schlüsse nur aus Fakten, die sie uns zeigen, damit wir nicht im dunkeln tappen müssen; so kommt der Leser selbst zu Schlüssen. Nebenbei entsteht eine gemeine Satire auf die geistige Atmosphäre eines Landes, das keineswegs verunglimpft wird, wenn man sie repressiv und muffig nennt.

Zuerst will es einem nicht in den Kopf, wie hier ein relevanter Streit entstehen kann: selten schien so klar, wer recht in einer Auseinandersetzung hat, wer unrecht. Mir sollte mal einer kommen, denkt man, und behaupten wollen, daß bei ihm um die Ecke ein zweitausend Jahre alter jüdischer Schuster wohnt, dazu derselbe, der damals Jesus den Schatten seines Hauses verweigert hat!

Doch auf dunkle Weise wird außer Kraft gesetzt, was jeden Tag als wahr und richtig gilt, die Wirklichkeit hört auf, die Wirklichkeit zu sein. Sie verwandelt sich in einen Zustand, in dem die anderen Regeln gelten, die vertrackten oder die kabbalistischen. Wir lernen das Unbegreifliche zu verstehen, ja, es als das einzig Sinnvolle zu betrachten. Unsere Erfahrungen werden mit minus eins multipliziert.

In der Silvesternacht '81 ist Dr. Siegfried Beifuß auf einmal nicht mehr da; S.246 zwei ausländische Herren besuchten ihn, ohne die Grenzübergangsstellen der Deutschen Demokratischen Republik passiert zu haben, dazu waren nur zwei ganz Bestimmte in der Lage. In der Wohnung von Beifuß, Leipziger Straße Nähe Checkpoint Charlie, achter Stock, ist ein Loch in der Wand; die beiden Herren sind mit dem Leiter des Instituts für wissenschaftlichen Atheismus verschwunden, und nur ein Hauch von Schwefel ist zurückgeblieben. Die Staatsorgane stehen fassungslos vor dem schwarzen Loch und begreifen nicht, was sich da zugetragen hat. Doch wir, um ein Buch klüger, können uns nur wundern, was daran unverständlich sein soll, bei so eindeutigem Sachverhalt.

Es kommt mir seltsam vor zu behaupten, daß Stefan Heym, indem er die Geschichte des Ahasver erzählt, von seinem eigenen Leben berichtet. Wann sollte er je den Heiland von der Tür gewiesen haben, und so alt ist er auch wieder nicht, und in welchen verschiedenen Gestalten sollte er aufgetreten sein? Trotzdem. Es ließe sich antworten, daß es sich doch nicht um eine Photographie handelt, und auch, daß andere, nicht weniger wichtige Details die Vermutung stützen.

Immerhin, Heym ist auch ein alter Jude, dem man sein Alter nicht ansieht. Und auch er ist herumgetrieben worden, verfolgt, bestraft, beschimpft, an keinem Ort so recht gelitten. Auch er hat wenig Grund, sich heimisch zu fühlen. Doch vor allem: Er hat die Hoffnung nicht verloren und meint, mit der Welt müßte sich noch etwas machen lassen. Zwei Aufrührer, die Schläge kriegen noch und noch und ums Verrecken keine Ruhe geben.

Ein Fehler wäre, den "Ahasver" so zu lesen, als müßte hinter jedem Wort ein anderes vermutet werden, ein eigentlich gemeintes. Die Suche zwischen oder hinter den Zeilen wird den Wert des Buches nicht erhöhen, in den Zeilen steht genug.

Gewiß, der "Ahasver" hat ein Geheimnis wie jede Kunst, ich möchte sagen, ein geheimnisvolles, das reizt den Leser. Er muß sich dem Geheimnis öffnen und nicht versuchen, Kapitel für Kapitel durchzurechnen. So wird das Buch wohl im Ministerium für Kultur der DDR gelesen werden, bevor man sich entschließt, es nicht zu drucken; doch andere sollten nicht auf diese Weise lesen.

Wenn Ahasver dem Heiland auseinandersetzt, "daß die Wahrheit nicht bei irgendwelchen zentralen Stellen liegt, sondern sichtbar ist für den, der sehen will", dann gibt es nichts zu transportieren. Der Autor hält sich streng an diesen Satz, denn sein Buch ist unglaublich, aber wahr.

Vor kurzem hat Stefan Heym mitgeteilt, Gott habe ihm bei der Niederschrift des "Ahasver" geholfen. Ich bin fest davon überzeugt.

DER SPIEGEL 45/1981
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Exif

APN COOLPIX P7000
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Focale 10.7 mm
ISO 455